Streit um Referendum eskaliert - Ankara verbittet sich EU-Einmischung

19.04.2017 14:42

Internationale Wahlbeobachter haben dem Referendum in der Türkei
zahlreiche Mängel attestiert. Die Bundesregierung fordert Ankara auf,
die Bedenken ernstzunehmen. Die türkische Regierung will davon nichts
wissen - und weist Kritik als unzulässige Einmischung zurück.

Istanbul (dpa) - Nach dem knappen Wahlsieg von Staatschef Recep
Tayyip Erdogan beim Verfassungsreferendum in der Türkei eskaliert der
Streit um Vorwürfe über Wahlmanipulationen. Der Chef der
OSZE-Wahlbeobachter, Michael Georg Link, sagte dem Redaktionsnetzwerk
Deutschland, von einer Kooperation der türkischen Regierung zur
Klärung der Vorwürfe «kann leider keine Rede sein». Der türkische

Außenminister Mevlüt Cavusoglu sagte am Mittwoch an die Adresse der
Wahlbeobachter dagegen: «Ihr könnt nicht in die Türkei kommen und
Euch in ihre Politik einmischen.» Cavusoglu verbat sich jegliche
Einmischung Europas und griff besonders die Niederlande scharf an.

Cavusoglu betonte, das Referendum sei «transparent» verlaufen. Die
Feststellungen der Wahlbeobachter - die internationale Standards bei
dem Referendum nicht erfüllt sahen - seien «äußerst parteiisch».
«Und
so haben sie auch überhaupt keine Geltung und keinen Wert.» In dem
vorläufigen Bericht der Beobachter gebe es «eine Vielzahl an
technischen und konkreten Fehlern und da sehen wir eine Absicht
dahinter». Link sagte: «Die jetzt öffentlich vorgebrachten Zweifel an

unserer Neutralität sind eindeutig politisch motiviert.»

Die Bundesregierung riet der Türkei dennoch, die Bedenken der
internationalen Wahlbeobachter nicht einfach abzutun. Die Regierung
in Ankara sei «gut beraten, das ernst zu nehmen, intensiv zu prüfen»,

sagte der Sprecher des Auswärtigen Amtes, Martin Schäfer, in Berlin.
EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn sagte der Deutschen
Presse-Agentur: «Nach dem Referendum ist jetzt die Zeit gekommen,
eine grundlegende Diskussion über die EU-Türkei-Beziehungen zu
beginnen, inklusive einer möglichen Neubewertung.»

Nach Protesten gegen den Ausgang des Referendums wurden in der
Metropole Istanbul Medienberichten zufolge 38 Menschen festgenommen.
Die Polizei sei am frühen Mittwochmorgen in die Häuser der Aktivisten
eingedrungen, berichtete die regierungskritische Zeitung «Birgün». In

Istanbul sowie in mehreren anderen Städten in der Türkei waren am
Dienstagabend und in den Tagen zuvor Tausende Menschen aus Protest
gegen den Ausgang des Referendums auf die Straße gegangen. Sie werfen
der türkischen Führung vor, die Wahl manipuliert zu haben und
bezeichnen das Ergebnis daher als nicht legitim. Der Wahlkommission
werfen die Demonstranten vor, «parteiisch» zu sein.

Erdogan hatte das Referendum am Sonntag nach dem vorläufigen Ergebnis
mit 51,4 Prozent knapp gewonnen. Die Wahlbeobachter der Organisation
für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des
Europarates hatten dem Prozess zahlreiche Mängel attestiert. Die
Opposition hat eine Annullierung des Referendums beantragt. Die
Wahlkommission wollte sich am Mittwoch mit Einsprüchen befassen,
denen aber kaum Aussicht auf Erfolg eingeräumt wurde.

Cavusoglu betonte, kein Land habe das Recht, «sich in ein Referendum
in der Türkei einzumischen». Er fügte hinzu: «Genauso hat die
Europäische Union nicht das Recht, eine Ermittlung einzuleiten.»
Besonders scharf griff Cavusoglu den Rechtspopulisten Geert Wilders
in den Niederlanden an, wo die Zustimmung zu Erdogans Präsidialsystem
bei 71 Prozent gelegen hatte.

Wilders hatte danach gesagt: «Wir müssen dafür sorgen, dass Leute
keine doppelte Staatsangehörigkeit mehr haben können, allen voran
Türken.» Cavusoglu erwiderte: «Also die, die beim Referendum in der

Türkei «Ja» gesagt haben, sollen nicht leben, sie sollen ausgebürge
rt
werden, sie sollen ermordet werden. Eine eindeutige Nazi-Auffassung,
eine vollkommen faschistische Auffassung.» Cavusoglu fügte hinzu:
«Und kein Politiker in Holland sagt, dass er Unsinn redet. Insofern
unterstützen sie ihn, indem sie schweigen.»

Das sei «eine Auffassung, die es nicht einmal in der Nazizeit gegeben
hat», kritisierte der Minister. «Leider steuern viele Politiker in
Europa und Kreise in manchen Ländern langsam auf Zeiten vor dem
Zweiten Weltkrieg zu. Holland ist auch eins davon.»

Präsident Erdogan wies unterdessen Anschuldigungen zurück, dass er
sein Land in eine Diktatur führe. «Haben wir nicht Wahlurnen? Die
haben wir», sagte Erdogan dem Sender CNN. «Wenn Sie sagen, dass die
Wahlurne einen Diktator produziert, dann wäre das eine große
Grausamkeit und Ungerechtigkeit gegenüber der Person, die gewählt
wird. Gleichzeitig wäre das auch eine große Respektlosigkeit
gegenüber denjenigen, die an der Wahlurne ihre Wahl treffen. Woher
bezieht die Demokratie ihre Macht? Vom Volk.»

Erdogan betonte, das Präsidialsystem, das ihn mit deutlich mehr Macht
ausstattet, sei nicht auf seine Person zugeschnitten. «Das ist kein
System, das Tayyip Erdogan gehört. Ich bin sterblich, ich könnte
jeden Moment sterben.»