Umstrittener Anti-Krisen-Kurs: EZB bekommt Gegenwind aus Karlsruhe Von Anja Semmelroch und Friederike Marx, dpa

15.08.2017 15:23

Die milliardenschwere Geldschwemme der Europäische Zentralbank ist
umstritten - vor allem in Deutschland. Jetzt meldet das
Bundesverfassungsgericht Bedenken an.

Karlsruhe (dpa) - Die Europäische Zentralbank (EZB) ruft mit ihrem
Anti-Krisen-Kurs das Bundesverfassungsgericht auf den Plan. Die
Karlsruher Richter haben ernste Bedenken, dass die Währungshüter mit
ihren milliardenschweren Käufen von Staatsanleihen womöglich zu weit
gehen. Vor ihrem Urteil über mehrere Verfassungsbeschwerden gegen die
ultralockere Geldpolitik der Notenbank unter Präsident Mario Draghi
schalten sie deshalb den Europäischen Gerichtshof (EuGH) ein, wie am
Dienstag in Karlsruhe mitgeteilt wurde. (Az. 2 BvR 859/15 u.a.)

Es sprächen «gewichtige Gründe» dafür, dass die dem
Anleihenkaufprogramm zugrundeliegenden Beschlüsse gegen das Verbot
der Staatsfinanzierung durch die Notenbank verstießen. Sie gingen
über das Mandat der EZB für die Währungspolitik hinaus und griffen

damit in die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten ein, hieß es weiter.

Die Wirtschaftspolitik ist in Europa den nationalen Regierungen
vorbehalten.

Zur Ankurbelung von Inflation und Konjunktur kauft die EZB seit März
2015 Staatsanleihen und andere Wertpapiere in großem Stil - derzeit
für 60 Milliarden Euro monatlich. Das viele Geld soll die Zinsen
drücken und die Kreditvergabe anheizen. Verbraucher und Unternehmen
geben im Idealfall mehr aus, wenn sie billiger an Geld kommen. Das
kann die Konjunktur in Schwung bringen und die Inflation antreiben.

Die Kläger sehen sich durch die Geldpolitik der Notenbank als
deutsche Wähler und Steuerzahler in ihren grundgesetzlich
garantierten Mitbestimmungsrechten verletzt. Die Vorlage in Luxemburg
bedeutet, dass die Verfassungsrichter diese Vorwürfe sehr ernst
nehmen. Weil es um EU-Recht geht, soll zunächst der EuGH urteilen.
Auf dieser Grundlage entscheidet dann später Karlsruhe.

In dem Verfahren geht es nur um Staatsanleihen und andere Wertpapiere
des öffentlichen Sektors. Die anderen Einzelprogramme der EZB, zum
Beispiel zum Kauf von Unternehmensanleihen, sind nicht betroffen. Die
Staatsanleihenkäufe sind aber mit weitem Abstand der größte Posten.

Im äußersten Fall könnten die Richter die deutsche Beteiligung daran

untersagen. Die Bundesbank ist größter Anteilseigner der EZB,
entsprechend viele Papiere kauft sie. Bundesregierung und Bundestag
könnte das Bundesverfassungsgericht verpflichten, auf politischer
Ebene auf eine Anpassung oder Beendigung der Käufe hinzuwirken.

Das Programm, dessen Risiken auch die nationalen Notenbanken tragen,
soll noch bis mindestens Ende 2017 laufen - insgesamt werden sich die
Käufe dann auf 2,28 Billionen Euro summieren. Die EZB bewertet ihre
Geldpolitik als Erfolg. Tatsächlich wächst die Wirtschaft im Euroraum
nach der Schuldenkrise inzwischen wieder robust. Die Zeiten der
Mini-Inflation sind vorerst vorbei.

Die Währungshüter streben im Euroraum eine Teuerungsrate von knapp
unter zwei Prozent an, weit genug von der Nulllinie entfernt. Denn
dauerhaft niedrige oder gar sinkende Preise verleiten Firmen und
Verbraucher dazu, Investitionen aufzuschieben - in der Hoffnung, dass
es bald noch billiger wird. Das kann die Konjunktur abwürgen.
Hauptaufgabe der Notenbank ist es, für Preisstabilität zu sorgen.

Gegen die EZB-Wertpapierkäufe - im Fachjargon QE («Quantitative
Easing»/Quantitative Lockerung) genannt - sind in dem Verfahren
gleich vier Verfassungsbeschwerden anhängig. Unter den Klägern sind
der frühere CSU-Vize Peter Gauweiler sowie mehrere
Europaparlamentarier der Liberal-Konservativen Reformer (LKR) um den
einstigen AfD-Mitbegründer Bernd Lucke. Luckes Beschwerde wird von
mehr als 1700 Mitklägern unterstützt.

Die EZB sieht die Käufe von ihrem Mandat gedeckt, wie ein
Notenbank-Sprecher sagte. Auch die EU-Kommission hält die Bedenken
des Bundesverfassungsgerichts für unbegründet. «Die Kommission ist
überzeugt, dass die EZB beim Ankauf von Staatsanleihen (...) auf der
Grundlage und in den Grenzen der Verträge handelt (...)», erklärte
eine Sprecherin.

Zentrale Fragen legt der Zweite Senat unter Gerichtspräsident Andreas
Voßkuhle jetzt dem EuGH zur Vorabentscheidung vor, mit der Bitte um
ein beschleunigtes Verfahren. Erst auf der Grundlage des Luxemburger
Urteils soll dann in Karlsruhe über die Klagen verhandelt werden.

Diesen Weg hat das Verfassungsgericht bisher erst einmal gewählt, und
auch da ging es um die EZB. Auf dem Höhepunkt der Euro-Schuldenkrise
im Sommer 2012 hatte Draghi zugesagt, einzelne Krisenstaaten unter
Bedingungen mit unbegrenzten Käufen von Staatsanleihen im Notfall zu
stützen. Dazu kam es nicht, allein die Ankündigung wirkte beruhigend.

Gegen dieses Programm - von den Experten OMT («Outright Monetary
Transactions») genannt - hatten die Verfassungsrichter massive
Bedenken. Ehe sie den Daumen senkten, gaben sie allerdings den
Richterkollegen am EuGH die Gelegenheit, die EZB-Beschlüsse durch
eigene Auslegung mit dem EU-Recht in Einklang zu bringen. In
Luxemburg bekamen die Währungshüter 2015 weitgehend grünes Licht.

Im Karlsruher OMT-Urteil aus dem Juni 2016 fügten sich die deutschen
Richter dann grundsätzlich der bindenden Einschätzung aus Luxemburg,
pochten aber auf die Einhaltung bestimmter Grenzen.

Bei den aktuellen QE-Anleihenkäufen stellt sich jetzt wieder die
Frage, ob dieser Rahmen überschritten ist. So ist es der EZB
beispielsweise verboten, die Käufe vorab anzukündigen. Die Richter
werfen die Frage auf, ob es auf den Märkten nicht eine «faktische
Gewissheit» gibt, dass ein festgelegter Teil aller Staatsanleihen im
Euroraum aufgekauft wird.

Beobachter halten es für wahrscheinlich, dass die EZB das gewaltige
Kaufprogramm im kommenden Jahr allmählich zurückfährt. Je nachdem,
wie schnell das geht, wird das Urteil möglicherweise erst gesprochen,
wenn die Käufe bereits beendet sind. In diesem Fall könnte Karlsruhe
die Spielräume der EZB aber für die Zukunft beschränken.