Menschenrechtsexpertin: EU nimmt mehr Tote im Mittelmeer in Kauf

15.08.2017 20:30

Harte Vorwürfe gegen Libyen, Italien und die EU - sie würden
Todesfälle im Mittelmeer in Kauf nehmen, um Migranten abzuschrecken.
Während Bundestagsvizepräsidentin Roth europäische Gründungswerte
gefährdet sieht, verteidigt Italiens Innenminister die Linie.

Genf/Brüssel/Rom (dpa) - Eine UN-Menschenrechtsexpertin hat den von
der EU befürworteten Verhaltenskodex für private Seenotretter im
Mittelmeer kritisiert. Die Vereinbarung, die Italien mit mehreren
Hilfsorganisationen geschlossen hat, könne zu mehr Todesfällen
führen, sagte die UN-Berichterstatterin für außergerichtliche und
willkürliche Hinrichtungen, Agnes Callamard, am Dienstag.
UN-Berichterstatter sind unabhängige Experten, die für die Vereinten
Nationen Menschenrechtssituationen untersuchen.

Italien verstoße gegen seine Menschenrechtsverpflichtungen, wenn mit
dem Kodex Rettungsaktionen verhindert und dadurch vorhersehbare und
vermeidbare Todesfälle in Kauf genommen würden. «Der Kodex und der
Aktionsplan legen nahe, dass Italien, die Kommission und die
EU-Mitglieder das Risiko und die Realität von Todesfällen im Meer als
einen Preis betrachten, den zu zahlen es wert ist, um Migranten und
Flüchtlinge abzuschrecken», so Callamard.

Auch die Unterstützung der Kommission für die libysche Küstenwache
kritisierte die Französin. Wer Flüchtlinge nach Libyen zurückschaffen

lasse, setze diese weiterer Gewalt aus. Es gebe Berichte, wonach die
Küstenwache selbst auf Migrantenboote geschossen habe.

Der italienische Innenminister Marco Minniti verteidigte unterdessen
den Verhaltenskodex. Immerhin hätten ihm die EU-Innenminister, die
EU-Kommission und die «wesentlichen Akteure im Mittelmeer freie
Fahrt» dafür gegeben, sagte Minniti in Rom bei einer Pressekonferenz.
Der Verhaltenskodex sieht unter anderem vor, dass Hilfsschiffe
libysche Territorialgewässer meiden, stets unter der Koordination der
zentralen Seenotrettungsleitstelle in Rom operieren und Polizisten
auf Anfrage an Bord lassen.

Minniti sieht den aktuellen Kurs der Regierung in Rom durch sinkende
Ankunftszahlen von Migranten bestätigt und eine Lösung in der
Flüchtlingsfrage näher kommen. «Die Flüchtlingsströme zu
kontrollieren ist sehr schwierig, aber nicht unmöglich», sagte er.
«Wir befinden uns immer noch im Tunnel, und der Tunnel ist lang. Aber
das erste Mal beginne ich, das Licht am Ende des Tunnels zu sehen.»

Die EU-Kommission verwies darauf, dass das EU-Training für die
libyschen Küstenschutzkräfte in Kooperation mit dem
UN-Flüchtlingshilfswerk erfolge und die Teilnehmer auch im Umgang mit
Migranten geschult würden. Zudem führte eine Sprecherin an, dass es
im Juli 2016 im Mittelmeer rund 800 Tote mehr gegeben habe als im
Juli dieses Jahres.

Die EU und die italienische Marine unterstützen die libysche
Küstenwache derzeit mit Ausbildungsprogrammen sowie technisch und
logistisch, damit diese ihre Hoheitsgewässer besser kontrollieren
kann und weniger Migranten nach Europa kommen. Minniti rechne damit,
dass sich der Juli-Trend mit rückläufigen Ankunftszahlen im August
fortsetze. In den ersten zwei Augustwochen kamen 73 Prozent weniger
im Mittelmeer Gerettete in Italien an als im gleichen Zeitraum 2016.

Am Wochenende hatten die Hilfsorganisationen Sea Eye, Ärzte ohne
Grenzen und Save the Children angekündigt, sich vorläufig von
Rettungseinsätzen zurückzuziehen. Als Gründe nannten sie Drohungen
sowie Ankündigungen aus Libyen, die eigene Such- und Rettungszone auf
internationale Gewässer auszuweiten. Minniti bestätigte, Libyen habe
bei der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation eine solche
Anfrage gestellt. «Im Moment ist es aber eine Anfrage und kein Fakt.»

Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) erklärte, was die
rechtsextreme «Identitäre Bewegung» mit ihrem Schiff zur Abwehr von
Flüchtlingshelfern nicht geschafft habe, vollziehe jetzt der
«gescheiterte libysche Staat» - einschließlich Seerechtsverletzungen

sowie Wegsperren von Flüchtlingen und Migranten in den Lagern
grausamster Milizen. «Dass die Bundesregierung und ihre europäischen
Partner diese Entwicklung hinnehmen, ist ein humanitäres
Armutszeugnis», so Roth am Dienstag.

Um Schleusern die Geschäftsgrundlage zu entziehen, muss es nach den
Worten der Grünen-Politikerin sichere und legale Alternativen zur
lebensgefährlichen Fahrt über das Mittelmeer geben. «Wir brauchen
humanitäre Visa, die Wiederaufnahmen der Familienzusammenführung, die
humanitäre Unterstützung von Herkunfts- und Transitländern», so Rot
h.
Das Errichten von immer tödlicheren Mauern hingegen unterwandere die
europäischen Gründungswerte und komme einem Konjunkturprogramm für
die Schlepper gleich. «Der EU droht der endgültige Verlust ihrer
einst so hoch geschätzten menschenrechtlichen Glaubwürdigkeit», sagte

Roth.