EU-Sozialgipfel - ein «denkwürdiger Moment» für Europa? Von Verena Schmitt-Roschmann, dpa

17.11.2017 06:00

Die Wirtschaftskrise ist aus Sicht der EU-Kommission so gut wie
ausgestanden - die «größte Soziale Krise seit Generationen» aber no
ch
längst nicht. Zeit zum Gegensteuern, mahnt Kommissionschef Juncker.

Göteborg (dpa) - Faire Jobs, eine gute Ausbildung, gerechte Löhne.
Eine Wohnung, Gesundheitsversorgung, Pflege. Ein bezahlbarer
Krippenplatz, Schutz vor Armut für die Kinder. Die Europäische Union
verspricht künftig soziale Mindeststandards für alle gut 500
Millionen Menschen zwischen Helsinki und Lissabon. In Göteborg wird
die neue «Säule sozialer Rechte» am Freitag beim Gipfel der
EU-Staats- und Regierungschefs besiegelt.

Bundeskanzlerin Angela Merkel fehlt diesmal - sie bleibt wegen der
Jamaika-Sondierung in Berlin. Und die «Soziale Säule» wird für den

soliden Sozialstaat Deutschland auch erst einmal wenig ändern. Doch
erwarten Gewerkschafter ein klares Signal gegen Sozialdumping, denn
billige Kräfte aus ärmeren EU-Ländern mischen den deutschen
Arbeitsmarkt auf. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, seit langem
Streiter für einen sozialeren Anstrich Europas, will zudem Populisten
und EU-Gegnern den Wind aus den Segeln nehmen. «Das sollte ein
denkwürdiger Moment werden», sagt er über den Göteborger Gipfel.

Europa kämpft nicht nur mit den Spätfolgen der Wirtschaftskrise und
immer noch sehr hohen Arbeitslosenzahlen in Ländern wie Griechenland,
Spanien oder Italien - mit der «größten sozialen Krise seit
Generationen», wie Juncker es formuliert. Auch unabhängig von der
Krise trennen die EU-Länder im Westen und Osten, im Norden und Süden
bei Wirtschaftskraft, Arbeitskosten, Kaufkraft und sozialer Sicherung
Welten. So lag das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf 2016 nach Daten der
Statistikbehörde Eurostat in den 28 EU-Ländern bei durchschnittlich
29 000 Euro. In Luxemburg war es jedoch mehr als zweieinhalb mal so
hoch, Bulgarien erreichte weniger als die Hälfte.

Die Arbeitslosigkeit lag in Tschechien laut Eurostat bei nur 2,9
Prozent, in Deutschland bei 3,7 Prozent - in Spanien waren es 17,1
Prozent, in Griechenland 21,7 Prozent und 44,4 Prozent
Jugendarbeitslosigkeit. Bildung, Armut, Einkommen, Kinderbetreuung,
Gesundheitsversorgung - überall zeigen die Balkendiagramme im am
Donnerstag veröffentlichten «Social Scoreboard» der EU-Kommission ein

steiles Gefälle.

Aber all die Gegensätze hält die von Erweiterung, Eurokrise und
Brexit aufgerüttelte EU auf Dauer wohl kaum aus. Hinzu kommen
Globalisierungsängste und der Umbruch der Arbeitswelt, die viele
verunsichern und eurokritischen Populisten wie der Alternative für
Deutschland Auftrieb geben. Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund mahnt
deshalb, das Thema ernst zu nehmen. «Es ist dringend notwendig, das
Vertrauen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in das europäische
Einigungs- und Friedensprojekt zu stärken und auszubauen», heißt es
in einer DGB-Entschließung zum Sozialgipfel.

Das dürfte auch Schwedens Ministerpräsident Stefan Löfven ein
Anliegen sein, der sich als Gastgeber profilieren und seinen
Sozialstaat als Vorbild präsentieren will. Er ist einer der letzten
sozialdemokratischen Regierungschefs in der EU. Doch auch in Schweden
wird nächstes Jahr gewählt - und den Sozialdemokraten hier droht ein
ähnliches Desaster wie in vielen anderen europäischen Ländern. Auch
hier hat mit den Schwedendemokraten eine rechtspopulistische Partei
Zulauf. Sie fordert die strikte Begrenzung der Zuwanderung - und den
Schutz des heimischen Wohlfahrts- und Sozialstaates. 

Ursprünglich sollte es in Göteborg vor allem um die neue «Säule
sozialer Rechte» gehen, die auch mit Gewerkschaftern und Betroffenen
kleinen Runden diskutiert werden soll. Dann sattelten die
Gipfelmacher in letzter Minute noch eine Bildungsoffensive drauf, als
Thema beim Mittagessen der Staats- und Regierungschefs.
Computerkenntnisse und mindestens zwei Fremdsprachen in der Schule,
EU-weit anerkannte Abschlüsse, mehr Austausch - auch hier will die
EU-Kommission einheitlichere Standards für alle auf dem Kontinent.

Allerdings ist Brüssel weder für die Bildungs- noch für
Sozialgesetzgebung wirklich zuständig. In den meisten Fragen kann die
EU bestenfalls den Rahmen vorgeben und die Mitgliedsstaaten drängen.
Der DGB drängelt mit: «Der richtigen Zielsetzung müssen daher nun
konkrete und vor allem rechtsverbindliche Schritte folgen.»

Die Wirtschaft warnt indes vor neuer Regelungswut. Es gebe ja auf
EU-Ebene schon einen umfassenden sozialen Besitzstand mit mehr als 70
Richtlinien und Verordnungen, mäkelt die Bundesvereinigung der
deutschen Arbeitgeberverbände. Die neue Soziale Säule sei höchstens
eine Art Kompass für die EU-Staaten.