Herr Chanel und die «Euro-Indianer» vom Rio Oiapoque Von Georg Ismar  und Autumn Sonnichsen , dpa

05.12.2017 10:00

Tief im Amazonasgebiet gibt es einen der ungewöhnlichsten Grenzposten
der Welt. Brasilien und die EU trennt hier nur ein Fluss. Indigenas
bringen Kinder auf der europäischen Seite zur Welt, um Kindergeld aus
Frankreich zu beziehen. Das ist aber Kern eines größeren Problems.

Vila Brasil/Camopi (dpa) - Der Händedruck sucht seinesgleichen. Als
der Kommandant der Fremdenlegion wieder loslässt, ist man froh, dass
nichts gebrochen ist. Bei ihm ist die Sicherung der europäischen
Grenze, im tiefsten Regenwald in Südamerika, sicher in guten Händen.

Zwei Meter groß, die blonden Haare kurz geschoren, russischer Akzent.
Seine Herkunft will er nicht preisgeben, er sei nun Franzose, hier im
Dschungeleinsatz. Am Bootsanleger steht: «Legio Patria Nostra» - «D
ie
Legion ist unser Vaterland.» 30 Soldaten der französischen
Fremdenlegion sind hier stationiert, um im Auftrag Frankreichs die
ungewöhnlichste europäische Außengrenze zu sichern. Der Rio Oiapoque

ist die Trennlinie zwischen Brasilien und Französisch-Guayana, dem
Überseegebiet Frankreichs und damit auch die Grenze zur EU.

Es ist ein isolierter Ort von bezaubernder Schönheit. Gerade morgens,
wenn der Nebel über das Wasser zieht, die Tierwelt erwacht, die Sonne
durch die grünen Baumriesen blinzelt. Und ein Ort der Gegensätze: Der
Rasen im Camp der Legion ist fein getrimmt. Es gibt Stromleitungen,
während auf der anderen Flusseite des Rio Oiapoque, in Brasilien,
Generatoren höchstens für ein paar Stunden am Tag Strom liefern.

Das Mobilfunknetz ist auf beiden Seiten ein französisches - mit einem
europäischen Handy fallen keine Roaminggebühren an, man ist ja in der
EU. Der Oiapoque bildet auch die Grenze zum brasilianischen
Nationalpark Tumucumaque, einem der größten Regenwald-Schutzgebiete.

Er hat fast die Ausmaße der Niederlande und ist seit Jahrhunderten
Heimat von ein paar hundert Wayapi-Ureinwohnern. Der Biologe Otto
Schulz-Kampfhenkel hatte hier für das Nazi-Regime von 1935 bis 1937
eine geheimnisumwitterte Expedition geleitet - angeblich suchten sie
im Urwald auch einen Brückenkopf für eine mögliche Landung in
Südamerika. Das blieb eine Utopie, einige Mitglieder starben an
Gelbfieber, aber die detailgenauen Karten der Expedition verblüffen
bis heute. Schulz-Kampfhenkel schrieb darüber das Buch «Rätsel der
Urwaldhölle», der gleichnamige Ufa-Film kam 1938 in die Kinos.

Auf der Seite Brasiliens sind zum Schutz des Regenwaldes Siedlungen
eigentlich verboten, aber dank des französischen Dorfes Camopi, wo
die Fremdenlegion stationiert ist, gibt es eine kleine Siedlung, Vila
Brasil. Die meisten der 90 Häuschen und Holzbaracken wurden aber
errichtet, bevor der Tumucumaque 2002 zum Nationalpark erklärt wurde.

Dort gibt es viel laute Musik, Freiluft-Frisöre, Alkoholläden in
Bretterbuden, Kneipen und Bordelle. Warum, wird nach und nach klar.
Acht Stunden braucht das Boot den Rio Oiapoque hinunter, um zum
abgelegensten Außenposten der EU zu gelangen. Immer wieder heißt es
aussteigen: sonst ist es zu schwer, um Stromschnellen hochzufahren.

Im Boot werden transportiert: Kisten voll Fisch, Bier, Brot, Mais,
Kartoffeln, manchmal auch ein Schwein. Es zirpt, grüne Urwaldriesen
so weit das Auge reicht. Affen sind zu hören, der Motor tuckert den
Oiapoque hinunter. Auch die 16 Jahre alte Wayapi Mariejeanne macht
immer wieder die beschwerliche Reise. Sie träumt davon, nach der
Schule in einem Restaurant in Cayenne zu arbeiten, der Hauptstadt
Französisch-Guayanas. Sie berichtet von den großen Alkoholproblemen.

«Einige fangen schon mit 13 an zu trinken», sagt sie, sie wohnt auf
der französischen Seite. Sie wirkt nachdenklich, traurig ihr Blick,
in Pausen legt sie sich in die Stromschnellen und lässt das Wasser an
sich vorbeirauschen. Sie rühre keinen Alkohol an. Als Grund für den
Alkoholismus unter den Wayapi gilt auch das französische Kindergeld.

Um darüber mehr zu erfahren, ist Joseph Chanel der richtige
Ansprechpartner. Er ist der Bürgermeister von Camopi und an diesem
Tag nur bis 12.00 Uhr zu sprechen. Denn es ist ein Sonntag - ab
mittags will er Cachaça, Zuckerrohrschnaps, trinken. Eigentlich heißt
er Joseph Chandet, aber die Franzosen verstanden irgendetwas falsch
oder dachten an das Parfüm, so wurde er im Pass zu Joseph Chanel.

Er liegt in einer Hängematte, die Lesebrille baumelt auf der nackten
Brust, er trägt nur einen Lendenschurz aus rotem Stoff. Am Arm hat er
eine Golduhr. Wenn man so will, ist er der Chef der «Euro-Indianer».

«Ich bin hier geboren und werde hier sterben», sagt Chanel. Die hier
seit Jahrhunderten lebenden Wayapi sind Wanderer zwischen den Welten,
sie kennen keine Grenzen. Aus der Hängematte kann Chanel über den Rio
Oiapoque rüber nach Brasilien schauen. Der größte Unterschied: Er
liegt in einer Hängematte in der Europäischen Union. Nirgendwo hat
Frankreich eine längere Grenze als hier, 730 Kilometer mit Brasilien.

Seit 1992 ist er mit Unterbrechungen der Bürgermeister. Rund 800 der
1800 Bewohner in Campoi sind Indigenas. Nicht wenige stammen von der
brasilianischen Seite, sie kamen, damit die Frauen hier ihre Kinder
zur Welt bringen. «Es gibt 400 bis 1200 Euro an Kindergeld, je nach
Alter und Anzahl», erzählt Chanel. Hinzu kommen weitere Sozialhilfen.

Das Geld wird oft in Alkohol auf der anderen Seite im günstigeren
Vila Brasil investiert, oder auch in Benzin und Diesel - in der
Gegend sind viele Goldsucher aktiv, die Sprit für die Motoren und
Diesel für Stromgeneratoren brauchen. Eine bizarre Amazonas-Ökonomie.

Wayapi sind abends in Vila Brasil an Tischen mit dutzenden geleerten
Bierdosen zu sehen, hindämmernd, die Kinder spielen auf der Erde.
Unisono wird von hohen Selbstmordraten unter den Wayapi berichtet.

Der 300-Einwohner-Ort ist der einzige im 207-Millionen-Einwohner-Land
Brasilien, wo der Euro das Zahlungsmittel ist. «Oft kommen sie von
Brasilien auch nur rüber, um sich hier in unserem Gesundheitsposten
behandeln zu lassen, da fehlen dann Medikamente für die Franzosen»,
klagt Chanel. Das Alkoholproblem habe bereits mehrere Präsidenten
beschäftigt, betont Chanel - einmal wurde sogar Nicolas Sarkozy per
Hubschrauber eingeflogen. Er schenkte dem Dorf einen Motor für ein
Boot. Der Motor wurde laut Berichten später von der Polizei an einem
Boot entdeckt, das massenhaft Benzin für die Goldgräber schmuggelte.

Im Oktober war auch Präsident Emmanuel Macron in Französisch-Guayana.
Schon mehrfach gab es Überlegungen, das Kindergeld in Camopi nicht
mehr auszuzahlen, sondern per Zahlkarte an bestimmte Sachleistungen
und Lebensmittel zu koppeln. «Aber passiert ist bisher nichts», sagt
Chanel. Er erhebt sich aus der Hängematte, läuft in blau-weißen
Badenschlappen und seinem roten Schurz rüber zum Holzhaus, es steht
auf Pfählen, zum Schutz gegen Hochwasser. Seine beiden Enkelkinder
kommen angerannt, sein ganzer Stolz. Ob sie später bleiben werden?

Nirgendwo hat die Europäische Union einen Ort wie diesen. Es gibt
einen Gendarmerie-Posten, auf der Theke stehen Gläser mit eingelegten
Schlangen. Draußen springt in einem Gehege ein Äffchen umher, das die
Polizei vor dem Grill bewahrt hat, Affenfleisch ist begehrt. Und auf
der Wiese steht ein halbes Boot, senkrecht aufgestellt, im Bug hängt
oben eine Karte mit Einschusslöchern - der Schießstand der Polizei.

Ein Gendarm klagt, bei Verbrechen flüchten die Täter über den Fluss,

dann sind sie in Brasilien und er machtlos. Hier gibt es keine
Passkontrollen, die Indigenas pendeln zwischen Südamerika und EU.

Jemand, der sich gerade um die Situation der Wayapi stark sorgt, ist
die Leiterin der Grundschule zu. Marianne Mayet sucht hier in Camopi
vor dem Ruhestand noch einmal das Abenteuer. Sie stammt aus
Südfrankreich. Eine elegante Frau mit viel Grandezza, immer im
schicken Kleid, mit pinkfarbener Brille. Auch am Ende der Welt gelte
es, Stil und Ordnung vorzuleben. Sie tischt gegrillten Fisch auf.

Durch die ganzen illegalen Goldminen im Umkreis dieser binationalen
Siedlung Camopi/Vila Brasil gibt es eine erhöhte Quecksilberbelastung
in den Gewässern, das Gold wird damit gefördert. «Es ist eine
ökologische Katastrophe», sagt sie. Aber trotzdem wolle sie auf Fisch
hier nicht verzichten. «Sterben tun wir irgendwann sowieso.» 

Sie fragt sich mit Blick auf die Indigenas, «ob die Schule gut für
sie ist». Diese wurde 2013 mit der zunehmenden Kinderzahl gegründet,
heute gibt es 270 Schüler. Letztlich handele es sich aber um eine Art
Kolonisierungskonzept. Camopi sei der Versuch, die als Nomaden
lebenden Wayapi sesshaft zu machen. «Sie verlieren ihre Kultur, ihre
Sprache, verlernen das Töpfern und Jagen.» Eigentlich hätten sie ein

sehr reiches Universum, erzählen ihre Träume, sie leben mit dem Wald.

Sie haben auch ihr eigenes Zahlenverständnis. «Es gibt bei ihnen nur
1,2,3 - und ganz viele.» Aber es sei schwierig, Lehrer zu bekommen,
die auf Wayapi unterrichten können - der einzige sei weggegangen.
Bürgermeister Chanel sei ein Kritiker des Schulkonzepts, das zu wenig
auf die indigenen Traditionen Rücksicht nehme, alles läuft auf
Französisch. Aber auch so ist es schwer, Lehrer zu finden, seit drei
Jahren wird etwa ein Englischlehrer für die Urwaldschule gesucht.

Die Indigenas werden hier zwar zu französischen Staatsbürgern, können

mit Frankreich aber gar nichts anfangen. In Vila Brasil werden sie
vor allem als Einnahmequelle gesehen, oft werden Wucherpreise für
Bier und Schnaps verlangt. Mitunter wirkt die Szenerie depressiv.

In Vila Brasil hoffen sie angesichts des einmaligen Grenzpostens
darauf, dass ein kleiner Öko-Tourismus entstehen könnte. Gerade wenn
die Sozialhilfen von drüben nicht mehr wie bisher ausgezahlt sollten
und hier in Alkohol und Essen reinvestiert werden. Weit her aus
Manaus und Macapá sind einige Händler hierhin tief in den Dschungel
gezogen, weil sich herumgesprochen hat, dass gute Geschäfte locken.

Es gibt neben einer kleinen grün-blauen Holzkirche eine Pension mit
Namen Belvedere, hier können Gäste morgens vom Balkon den Söldnern
der Fremdenlegion beim Stählen der Körper auf der anderen Flussseite
zuschauen. Es sind zwei Welten. In Vila Brasil ist alles etwas
unsortierter. Und es gibt unterschiedliche Mentalitäten. Das zeigt
der Posten der brasilianischen Armee, das «Comando de Fronteira».

Der Kommandant kommt persönlich zum Bootsanleger am Rio Oiapoque -
und hier sind die Soldaten anders als bei der Fremdenlegion äußerst
redselig. Mehrere haben einen Spezialkurs «Guerra na Selva», «Krieg
im Dschungel», absolviert. Das Kampftraining ist etwas ungewöhnlich.
Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, zu wessen Gunsten hier
eine Konfrontation der beiden Staaten ausgehen dürfte, auch wenn die
Brasilianer ein paar mehr Soldaten am Grenzfluss stationiert haben.

Am Anlegen liegen drei Patrouillenboote. Der Kommandant erzählt von
der Vorliebe für Grillabende. Ein Soldat schlägt derweil mit einem
Vorschlaghammer auf einen LKW-Reifen ein, ein anderer wuchtet einen
Reifen immer weiter vorwärts über die Wiese, die meisten der anderen
Soldaten spielen Fußball. Der Kommandant trägt einen Dolch mit
goldenem Jaguarkopf. «Das größte Problem ist die Logistik, wir müss
en
alles per Boot her bringen», klagt der Mann, der aber anonym bleiben
will. Probleme mit der Fremdenlegion auf der gegenüberliegenden
Flussseite gebe es nicht. «Frankreich ist ja ein befreundeter Staat.»

Das größten Probleme hier sind die Diebstähle von Motorbooten - und
die illegalen Goldgräber. Auf die Frage, warum sie nicht Drohnen
einsetzen, um die oberirdischen Gruben zu finden, wo Gold gefördert
wird, sagt er: «Die haben wir leider nicht, wir bekommen manchmal
Tipps. Aber bis wir uns zu den Banditen durchgeschlagen haben, sind
die schon weg.» Ob man denn selbst mal eine Drohne fliegen lassen
könne, um beide Seiten der Grenze zu fotografieren. «Kein Problem»,
sagt ein Soldat. Der Kommandant der Fremdenlegion hätte wohl die
Drohne bei so einer Frage persönlich mit seinen Händen zerquetscht.