Drama um halb drei - Vom Ritual der EU-Nachtsitzungen in Brüssel Von Alkimos Sartoros, dpa

28.12.2017 09:15

Politische Einigungen sind nervenaufreibende Kleinarbeit - und oft
dauern sie sehr, sehr lang. In der EU-Hauptstadt Brüssel gehören zähe

Nachtsitzungen daher zum Alltag. Doch selbst manchen Verantwortlichen
geht das mittlerweile zu weit.

Brüssel (dpa) - Estlands Umweltminister lässt sich nicht aus der Ruhe
bringen. «Zunächst einmal möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf die
Tatsache lenken, dass es im Jahr 1964 vierzig Stunden gedauert hat,
eine Einigung im Agrar- und Fischereirat zu finden», sagt Siim
Kiisler an diesem trüben Dienstagmorgen im Oktober. Zu der frühen
Stunde sitzen die meisten Leute noch am Frühstückstisch. Die
EU-Fischereiminister haben da gerade 20 Stunden über die erlaubten
Fischfangmengen in der Ostsee für das folgende Jahr gefeilscht. Vor
einer Handvoll Journalisten und einigen übermüdeten Diplomaten legt
Kiisler dann in aller Seelenruhe die Details dar.

Die Fischerei-Ministertreffen zählen zu den langwierigsten im
Brüsseler und Luxemburger EU-Alltag. Für Dutzende Fanggebiete und
Fischarten werden auf die Tonne genau die Höchstfangmengen
ausgehandelt. Die Staaten ringen dabei oft bis in die frühen
Morgenstunden um jedes kleinste Zugeständnis. Minus 39 Prozent
Höchstfangmenge für den Hering in der westlichen Ostsee, keine
Änderungen beim Dorsch, heißt es dann etwa abschließend.

Während es bei diesen und anderen Treffen zumindest einen gewissen
Sachzwang und komplexe Materien zu bewältigen gibt, macht einigen
Beteiligten in anderen Ratsformationen oder bei den Treffen der
Staats- und Regierungschefs noch etwas ganz anderes zu schaffen: der
Showeffekt.

Er werde dreimal das Hemd wechseln, kündigte etwa der ehemalige
britische Regierungschef David Cameron Diplomaten zufolge vor dem
EU-Gipfel im Februar 2016 an, bei dem die EU um ein letztes Angebot
an Großbritannien rang, das die Briten noch zum Verbleib in der
Staatengemeinschaft bewegen sollte. Die litauische Präsidentin Dalia
Grybauskaite prognostizierte da bereits: «Jeder wird sein eigenes
Drama haben, und am Schluss werden wir uns einigen.»

Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich sonst auch nach
durchstandenen Gipfel-Nächten kaum etwas anmerken lässt, entfloh dem
klimatisierten Brüsseler Ratsgebäude. Sie machte einen Spaziergang zu
einer nahegelegenen, bekannten Brüsseler Pommesbude und gönnte sich
eine Portion Fritten. Derart gestärkt ging es für Merkel dann zurück

- und zum Showdown.

Das einige Monate später folgende Brexit-Referendum machte den hier
scheinbar mühsam ausgehandelten Deal zwar bekanntlich zunichte. Doch
Cameron bekam bei dem Treffen der EU-Chefs zumindest seinen großen
Auftritt. Kommentar aus Delegationskreisen: «Theater ist gut.»

Andere Teilnehmer hadern mit den zähen Nachtsitzungen noch deutlich
mehr. EU-Ratspräsident Donald Tusk startete bereits bei seinem
Amtsantritt 2014 einen Versuch, die EU-Gipfel auf einen Tag zu
begrenzen und die ausufernden Mitternachtsdebatten einzudämmen - mit
nur mäßigem Erfolg.

Vollends einen Strich durch die Rechnung machte ihm schließlich das
Votum der Briten zum Austritt aus der EU. Seit feststeht, dass
Großbritannien 2019 aus der Europäischen Union ausscheiden soll, sind
die Gipfel wieder ständig auf zwei Tage angelegt. Am ersten beraten
in der Regel die Chefs der 28 EU-Staaten, am zweiten gibt es meist
noch eine Runde ohne Großbritannien. Und auch die Nachtsitzungen sind
wieder fester Bestandteil. Ob das der Sache dient, sei dahingestellt:
Wissenschaftlern zufolge wirken sich 24 Stunden ohne Schlaf auf die
Leistungsfähigkeit wie ein Blutalkoholwert von rund einem Promille
aus.

Hört man sich auf den Fluren und Korridoren in Brüssel um, wird aber
schnell klar: Früher war es noch schlimmer. Berüchtigt sind etwa die
damals noch von Eurogruppenchef Jean-Claude Juncker geleiteten
Treffen der Finanzminister des gemeinsamen Währungsgebiets.

Als der niederländische Sozialdemokrat Jeroen Dijsselbloem 2013 die
Nachfolge als Vorsitzender der Eurogruppe antrat, wurden die
Diskussionen etwas kürzer. Doch auch hier bescherten vor allem
hitzige Verhandlungen zur Finanzkrise, zu griechischen
Rettungskrediten oder dem Spar- und Reformprogramm des klammen Landes
den Ministern unzählige schlaflose Nächte.

Manchmal waren dabei auch widrige Umstände zu meistern. Bei
Verhandlungen 2012 zu neuen Banken-Eigenkapitalregeln standen etwa
nach elfstündigen Marathonverhandlungen keine Dolmetscher mehr zur
Verfügung - die Finanzminister mussten auf Englisch weiterverhandeln.
Ursprünglich war das Treffen nur für einige Stunden angesetzt.

Brüsseler Nächte gehen also an die Substanz - für alle Beteiligten.
Doch im kommenden Jahr dürfte es kaum einfacher werden. Mit
voraussichtlich sehr langwierigen und schwierigen Brexit-Gesprächen,
Verhandlungen über künftige EU-Budgets und -Fördergelder, Asyl-Reform

und Euro-Reform stehen einige harte Nüsse schon jetzt auf dem
Programm. «2017 war ein volles Jahr für uns», meinte ein Sprecher der

EU-Kommission zum Abschied bei seinem letzten Auftritt vor der
Weihnachtspause. «Ich habe keinen Zweifel, dass es ein geschäftiges
Jahr für alle von Ihnen war», sagte er an das Brüsseler Pressekorps
gerichtet. «Die schlechte Nachricht ist: 2018 wird noch intensiver.»