EU - schaffen die 27 gemeinsam den Aufbruch? Von Verena Schmitt-Roschmann, dpa
28.12.2017 09:45
2018 wird für die Europäische Union ein «noch intensiveres Jahr» al
s
dieses, meint die EU-Kommission. Was kommt da auf die Europäer zu?
Brüssel (dpa) - Der europäische Patient hat die Intensivstation
verlassen. Das ist die gute Nachricht des Jahres 2017. Die Wirtschaft
läuft besser - alle 28 Länder der Europäischen Union melden Wachstum.
Die Stimmung steigt - 57 Prozent der Befragten im «Eurobarometer»
sehen die Zukunft der EU optimistisch. Etliche denkbare Katastrophen
blieben aus - allen voran die befürchteten Wahlsiege rechtsextremer
EU-Feinde in Frankreich und den Niederlanden.
Aber geht es dem Patienten gut, nur weil Koma oder Herzstillstand
vermieden sind? Genesung, Kränkeln oder Siechtum, die Frage ist noch
nicht entschieden. Raffen sich die künftig nur noch 27 EU-Länder auf
zur Erneuerung? Kann die Gemeinschaft ihre innere Spaltung
überwinden? Es steht viel auf dem Spiel im letzten Jahr vor der
Europawahl 2019. Fünf Trends, die die nächsten Monate prägen werden:
WARTEN AUF DEUTSCHLAND
«Ein bisschen Eile wäre angebracht», sagte EU-Kommissionspräsident
Jean-Claude Juncker neulich zur Regierungsbildung in Berlin. Noch nie
hat die EU so eine Hängepartie im größten Mitgliedsland erlebt. Vor
allem der französische Präsident Emmanuel Macron drängelt, hat er
doch im September an der Pariser Sorbonne ein Programm zur
Runderneuerung der EU vorgelegt. Er will Taten. Deutschland aber ist
mit sich selbst beschäftigt.
Immerhin versprach Kanzlerin Angela Merkel beim EU-Gipfel im Dezember
Seit' an Seit' mit Macron einen abgestimmten Vorstoß zur Reform der
Wirtschafts- und Währungsunion bis März - in der Hoffnung, dass bis
dahin eine neue Bundesregierung steht. Im Juni sollen dann erste
Entscheidungen fallen. Ziel ist, den Euro krisenfester zu machen.
UMBAU ODER NUR NEUE TAPETE?
Die Vollendung der Bankenunion und der Streit über die gemeinsamen
Einlagensicherung werden die Staats- und Regierungschefs dann erneut
und sicher abendfüllend kneten und walken und am Ende ein Ergebnis
präsentieren. Aber ist das schon die große EU-Reform? Macron hat von
einer «Neubegründung eines souveränen, geeinten und demokratischen
Europas» gesprochen und ein hartes Urteil über den Zustand der Union
gefällt: «Das Europa, wie wir es kennen, ist zu schwach, zu langsam,
zu ineffizient.»
In der tiefen Sinnkrise nach der Brexit-Entscheidung Großbritanniens
hat auch die EU-Kommission an Zukunftsvisionen gearbeitet - ein
Weißbuch legte sie vor, dann etliche Konzeptpapiere, die Präsident
Jean-Claude Juncker im September mit den Worten resümierte: «Jetzt
ist der Moment, um ein enger vereintes, ein stärkeres und ein
demokratischeres Europa für das Jahr 2025 aufzubauen.»
Der «Moment» aber zieht sich. Erst im Frühjahr 2019 sollen nach
Junckers Worten erste Entscheidungen fallen, unmittelbar vor der
Europawahl. Nach Stand der Dinge muss man sagen: wenn überhaupt.
DIE NATIONALISTISCHE KRISE
Denn die EU-Länder sind entzweit, vor allem zwischen West und Ost.
Der bittere Streit über die Justizreformen in Polen ist dafür nur
Symptom, ebenso die Dauerquerelen um die Verteilung von Flüchtlingen.
Darf «Brüssel» den Mitgliedsstaaten Vorgaben machen? Das angebliche
Diktat ungewählter Eurokraten ist auch in Ungarn ein wiederkehrendes
Motiv, bisweilen vorgetragen mit beißender Schärfe.
Selbstbestimmung souveräner Staaten wird da gepredigt, garniert mit
etwas Binnenmarkt, Freizügigkeit und Finanzmitteln aus
EU-Strukturfonds. Ist das die Zukunft der Europäischen Union? Oder
sind es eher die «Vereinigten Staaten von Europa» mit eigener
Verfassung und Rauswurf-Automatik für Quertreiber, wie sie SPD-Chef
Martin Schulz jüngst dem verblüfften Publikum präsentierte?
Der Richtungsstreit fängt erst richtig an. Überall in Europa herrscht
weiter Zulauf zu populistischen und nationalistischen Parteien, die
«Brüssel» stutzen wollen, nicht zuletzt die AfD in Deutschland. In
Österreich sind sie mit der FPÖ jetzt in der Regierung. In Italien
macht sich vor den Wahlen im Frühjahr die rechte Lega Nord bereit und
auch die eurokritische Fünf-Sterne-Bewegung.
BREXIT
Das bisher extremste Beispiel ist der Austritt Großbritanniens unter
dem Banner der Selbstbefreiung von Brüsseler Ketten. Wie der Brexit
genau aussieht, wird die nächsten Monate in mutmaßlich ermüdender
Kleinstarbeit an Brüsseler Verhandlungstischen ausgedrechselt werden.
Ob dann im Oktober wirklich, wie vom EU-Unterhändler Michel Barnier
postuliert, ein Austrittsabkommen samt «politischer Erklärung» zu den
künftigen Beziehungen vorliegt, steht in den Sternen.
Klar ist, dass die EU höllisch aufpassen wird, die eigenen Reihen zu
schließen und London auf Abstand zu halten. Der Austritt soll
schmerzen, so die Brüsseler Logik. Zu groß wäre sonst der Anreiz fü
r
murrende Mitglieder wie Polen oder Ungarn, es den Briten gleichzutun.
DER STREIT UMS GELD
Vielleicht gehen sie ohnehin, spekulierten manche nach der Abmahnung
an Polen wegen Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit. Entscheidend
könnte, wie so oft, das Geld sein. Für den EU-Finanzrahmen ab 2021,
den Haushaltskommissar Günther Oettinger im Mai vorlegen will, fehlen
der Nettozahler Großbritannien und mindestens zehn Milliarden Euro
pro Jahr. Gleichzeitig will die EU jährlich zehn Milliarden Euro mehr
ausgeben, ob nun zur Stabilisierung des Euro, für Grenzsicherung,
Hilfen gegen Migration, für Verteidigung oder Forschung, wie
Oettinger der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» sagte.
Nettozahler wie Deutschland dürften zur Kasse gebeten werden, aber
auch ärmere Länder: Sie müssen sich darauf gefasst machen, weniger
aus Gemeinschaftstöpfen zu bekommen. Womit wir wieder bei Polen und
Ungarn wären, zwei der größten Nettoempfänger. Was bleibt vom Reiz
der EU, wenn nicht bare Münze? Juncker sagte es zu Beginn seiner
Amtszeit so - und das dürfte ihn zum Ende wieder einholen: «Entweder
uns gelingt es, Europa den Bürgern näher zu bringen, oder wir
scheitern.»