EU-Kommission äußert vernichtende Kritik an Entwicklung der Türkei

17.04.2018 18:19

Der EU-Beitrittskandidat Türkei bekommt von der EU einmal mehr ein
dramatisch schlechtes Zeugnis ausgestellt. Anderen Ländern, die in
die Europäische Union wollen, wird hingegen Mut gemacht.

Straßburg (dpa) - In ihrem neuen Türkei-Bericht äußert die
EU-Kommission vernichtende Kritik an der Politik des
islamisch-konservativen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. «Die
Türkei hat sich in großen Schritten von der EU wegbewegt», heißt es

in der am Dienstag veröffentlichten Bewertung der
EU-Beitrittsverhandlungen mit dem Land. Konkret ist zum Beispiel von
deutlichen Verschlechterungen der Rechtsstaatlichkeit und der Presse-
und Meinungsfreiheit die Rede.

Die EU-Kommission verweist in ihrem Bericht darauf, dass seit der
Einführung des Ausnahmezustandes nach dem gescheiterten Putsch 2016
bereits mehr als 150 000 Menschen in Haft genommen wurden. Zudem sei
es zur Entlassung Zehntausender Beamter gekommen.

Eine Empfehlung, die praktisch bereits auf Eis liegenden
Beitrittsgespräche mit der Türkei auch offiziell auszusetzen, sprach
die Kommission allerdings nicht aus. Ein solcher Schritt könnte aus
Sicht der Kommissionsspitze zum Beispiel die Vereinbarungen zur
Flüchtlingskrise gefährden. Der Flüchtlingspakt gilt als ein Grund
dafür, dass derzeit deutlich weniger Migranten nach Europa kommen als
noch 2015.

«Die EU ist strategisch wichtiger Partner und wird es auch bleiben»,
kommentierte der zuständige EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn.
Eine Empfehlung für ein offizielles Aussetzen der
Beitrittsverhandlungen ergebe auch deshalb keinen Sinn, weil die
Mehrheit der EU-Mitgliedsländer weiter dagegen sei.

Um wieder mehr Vertrauen zu schaffen, fordert die EU-Kommission die
Türkei auf, unverzüglich den Ausnahmezustand aufzuheben, der nach dem
Putschversuch vom Juli 2016 verhängt worden war.

Neben den Entwicklungen in der Türkei bewertete die EU-Kommission
auch die Lage in den Kandidatenländern Albanien, Bosnien-Herzegowina,
Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien. Die sechs Balkanstaaten
bekamen ein deutliches besseres Zeugnis ausgestellt - auch wenn sie
weiter vor riesigen Reformherausforderungen stehen.

Wegen der Fortschritte in Albanien und Mazedonien empfahl die
Kommission nun sogar die Aufnahmen von offiziellen
Beitrittsverhandlungen mit den Ländern. Gespräche dieser Art laufen
derzeit nur mit Montenegro und Serbien. Bosnien-Herzegowina und das
Kosovo gelten lediglich als potenzielle Kandidaten für Verhandlungen.

Die endgültige Entscheidung über die Aufnahme von
Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Mazedonien müssen nun die
EU-Mitgliedstaaten treffen. Ob es in ihrem Kreis die notwendige
Einstimmigkeit gibt, gilt allerdings als fraglich. Mazedoniens
Nachbar Griechenland blockierte wegen eines Namensstreites bisher
jede Annäherung des an die Nato und EU. In der Auseinandersetzung
geht es darum, dass Griechenland will, dass Mazedonien seinen Namen
ändert. Grund ist, dass auch der nördliche Teil Griechenlands den
Namen Mazedonien trägt.

Der französische Präsident Emmanuel Macron warnte alle Balkanländer
am Dienstag ganz allgemein vor zu großen Erwartungen. Er sieht eine
Reform und Vertiefung der Europäischen Union als Bedingung für einen
möglichen Beitritt der Westbalkanstaaten.

Auch die Bundesregierung hatte zuletzt immer wieder vor allzu viel
Optimismus gewarnt. Sie sah es vor allem kritisch, dass die
EU-Kommission den Westbalkanstaaten in Aussicht gestellt hatte, bei
entsprechenden Reformen bis zum Jahr 2025 der EU beitreten zu können.

Für Albanien und Mazedonien dürfte dennoch schon die Empfehlung für
Beitrittsgespräche eine gute Nachricht sein. Das Land mit drei
Millionen Einwohnern ist eines der ärmsten Europas. Trotz großer
Fortschritte gibt es weiter in allen gesellschaftlichen,
wirtschaftlichen und staatlichen Bereichen Korruption. Wer kann,
versucht, ins Ausland zu kommen - vor allem nach Italien jenseits der
Adria.

Auch Mazedonien kann etwas Hoffnung gebrauchen. Das kleine Land mit
2,1 Millionen Einwohnern leidet unter seinen nationalen Problemen.
Schätzungsweise ein Viertel bis ein Drittel der Bürger sind Albaner.
Die slawische Mehrheit kann sich nur schlecht damit abfinden, dass
die Minderheit nach den neuen Gesetzen anteilsmäßig in Behörden und
im Bildungssystem vertreten sein muss.