Balkan statt Großbritannien? Hitzige Debatte über EU-Erweiterung Von Ansgar Haase und Thomas Brey, dpa

20.04.2018 11:30

Organisierte Kriminalität, Korruption und jede Menge Grenzkonflikte:
Die Balkanstaaten galten bislang alles andere als EU-reif. Nun hat
die EU-Kommission die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit
Albanien und Mazedonien empfohlen.

Brüssel (dpa) - Wird die EU trotz des Brexits schon im kommenden
Jahrzehnt mehr als 30 Mitgliedsländer zählen? Die EU-Kommission hält

das für durchaus wünschenswert und lockt Balkanstaaten wie Montenegro
und Serbien sogar mit dem konkreten Datum. Diese Woche erst schlug
sie zudem vor, auch mit Albanien und Mazedonien offizielle
Beitrittsgespräche aufzunehmen. Nur Bosnien-Herzegowina und das
Kosovo sind noch nicht soweit. Doch ist eine EU-Erweiterung überhaupt
sinnvoll, wenn es schon heute schwerfällt, eine gemeinsame Linie zu
finden? Fragen und Antworten im Überblick:

Warum macht die EU-Kommission Tempo beim Beitrittsprozess?

«Die EU-Erweiterung ist eine Investition in Frieden, Sicherheit,
Wohlstand und Stabilität in Europa», erklärte EU-Chefdiplomatin
Federica Mogherini diese Woche. Zwar sind die sechs Balkanstaaten von
den EU-Mitgliedern Griechenland, Bulgarien, Rumänien, Ungarn und
Kroatien umgeben. Doch Russland, China und die Türkei bauen ihren
Einfluss in der Region aus. Das bereitet vielen in der EU Sorgen.

Hat die Empfehlung für neue Beitrittsverhandlungen praktische Folgen?

Nicht direkt. Nach Meinung der EU-Kommission sind Albanien und
Mazedonien zwar jetzt reif, Beitrittsverhandlungen zu beginnen. Die
Entscheidung muss aber einstimmig von den Regierungen der
EU-Mitgliedstaaten getroffen werden. Ob diese eine gemeinsame Linie
finden, ist derzeit äußerst fraglich.

Die EU-Kommission hat den Westbalkanstaaten in Aussicht gestellt, bei
entsprechenden Reformen bis zum Jahr 2025 der EU beitreten zu können.
Ist das realistisch?

Das bezweifeln selbst Optimisten. Zu groß sind noch die
Reformdefizite. Albanien gilt wegen seines Haschisch-Anbaus als
«Kolumbien Europas». Die staatlichen Institutionen und Behörden oder

die Polizei funktionieren nicht. Korruption ist allgegenwärtig. Das
Parlament wird regelmäßig von der Opposition boykottiert. In diesem
Monat wurde Regierungschef Edi Rama in der Volksvertretung mit Eiern
und Mehl attackiert.

In Mazedonien ist die Lage nicht viel besser. Die Justiz gilt als
politisch gesteuert, die Medien ebenso. Vor einem Jahr wurde das
Parlament gestürmt und verwüstet, Abgeordnete wurden krankenhausreif
geschlagen. Hinzu kommen nationale Verwerfungen zwischen der
slawischsprechenden mazedonischen Mehrheit und der albanischen
Minderheit. In Mazedonien wie Albanien ist der Schmuggel aller Art -
Drogen, Waffen, Zigaretten, Alkohol, Menschen - ein bedeutender
Wirtschaftsfaktor.

Gibt es trotz der Fülle von Reformdefiziten noch weitere Hindernisse
für eine zügige Annäherung der Balkanstaaten an die EU?

Ja, das sind die vielen Grenzstreitigkeiten. Für die EU-Kommission
müssen die allesamt gelöst werden, bevor es in Richtung Brüssel gehen

kann. Denn der jüngste erbitterte Grenzstreit zwischen den beiden
Mitgliedsländern Slowenien und Kroatien in der Adriabucht von Piran
hat noch einmal klar gemacht, dass potenzielle neue EU-Mitglieder
ihre territorialen Konflikte nicht in die EU tragen dürfen.

Warum wird dann überhaupt das Datum 2025 genannt?

Die EU-Kommission will damit die Regierungen motivieren, bei Reformen
Tempo zu machen. Ihr Präsident Jean-Claude Juncker sprach jüngst von
einem «Ermunterungsdatum».

Welches Land ist am weitesten im Beitrittsprozess?

Die mit Abstand größten Fortschritte hat in den vergangenen Jahren
Montenegro erzielt. Das kleine Adrialand wurde 2017 bereits in die
Nato aufgenommen und in den EU-Verhandlungen wurden bereits 30 der
insgesamt 35 Themenbereiche angegangen - drei sogenannte Kapitel
konnten sogar schon vorläufig abgehakt werden. Serbien, das Kernland
des früheren Jugoslawiens, kommt auf 12 geöffnete Kapitel, von denen
bislang 2 vorläufig abgeschlossen wurden.

Können sich die Balkanländer sicher sein, in die EU aufgenommen zu
werden, wenn sie alle Voraussetzungen erfüllen?

Derzeit sieht es nicht danach aus. Der französische Präsident
Emmanuel Macron forderte am Dienstag, dass es vor einer
EU-Erweiterung umfangreiche EU-Reformen geben müsse. Er befürchtet,
dass die Union sonst an Handlungsfähigkeit verliert. «Serbien wird
höchstwahrscheinlich niemals EU-Mitglied werden», interpretierte die
Belgrader Boulevardzeitung «Informer», die als Sprachrohr der
Regierung gilt, diese Position.

Wie geht es jetzt weiter?

Am 17. Mai organisiert Bulgarien in Sofia einen EU-Westbalkan-Gipfel.
Dabei dürfte es hitzige Debatten geben. Länder wie Österreich dräng
en
aus sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Interessen auf eine
klare EU-Perspektive für die Balkanstaaten. Länder wie Deutschland
wollen hingegen vermeiden, dass noch einmal Länder wie Rumänien oder
Bulgarien aufgenommen werden, die sich sehr schwer tun, EU-Standards
wie Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft und Medienfreiheit zu
erfüllen.

Daneben dürfte es Zoff um das Kosovo geben, das vor zehn Jahren von
Serbien abgefallen war. Fünf EU-Mitglieder (Spanien, Griechenland,
Rumänien, Zypern, Slowakei) weigern sich beharrlich, das Kosovo als
jüngsten europäischen Staat anzuerkennen. Weil auch das Kosovo zum
Balkan-Gipfel eingeladen ist, erwägt Spanien sogar den Boykott des
Treffens.