Was der Türkei-Streit für Nato, EU und Deutschland bedeutet Von Ansgar Haase, Michael Fischer und Benno Schwinghammer, dpa

14.08.2018 15:59

Die US-Sanktionen stürzen die Türkei noch tiefer in die
Währungskrise. Der Streit zwischen Washington und Ankara hat aber
nicht nur wirtschaftliche Folgen. Und er betrifft weit mehr als nur
die beiden Länder selbst.

Brüssel/Berlin (dpa) - Die USA torpedieren die türkische Wirtschaft
mit Strafzöllen. Präsident Recep Tayyip Erdogan spricht von
«Kraftmeierei» und macht deutlich, dass er in der Auseinandersetzung
um den in der Türkei inhaftierten US-Pastor Andrew Brunson notfalls
zum Äußersten bereit sei. Staaten, die Frieden wollten, müssten
bereit zu Krieg sein, sagt er. «Wir sind bereit, mit allem, was wir
haben.»

Kriegsrhetorik zwischen zwei Nato-Bündnispartnern, die eigentlich zu
gegenseitigem Schutz verpflichtet sind - hat es das überhaupt schon
mal gegeben? Die Worte Erdogans zeigen, dass der Streit zwischen den
USA und der Türkei aus dem Ruder gerät und weit mehr als
wirtschaftlichen Schaden anrichten kann. Die Folgen betreffen nicht
nur die beiden direkt beteiligten Länder.

Was bedeutet das Zerwürfnis...

...für die NATO?

Zieht es Erdogan sogar in Erwägung, sein Land wegen des Streits mit
Trump aus der Nato zu führen? Wer ihn jüngst drohen hörte, «nach
neuen Freunden und Verbündeten zu suchen», könnte durchaus auf diese

Idee kommen. In der Bündniszentrale in Brüssel werden solche Sorgen
allerdings nicht geteilt. Die Mitgliedschaft im stärksten
Militärbündnis der Welt gilt als strategisch zu wichtig, um sie wegen
des Streits mit einem einzelnen Mitgliedstaat einfach so aufzugeben -
nicht zuletzt deswegen, weil sie gleichzeitig eine enge Anbindung an
den Westen sichert.

Dementsprechend gelassen gibt sich auch das Team von
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. «Es kommt vor, dass
Nato-Verbündete Meinungsverschiedenheiten haben», sagte eine
Sprecherin Anfang der Woche zu dem Streit. Was das Wesentliche
angehe, hätten die Alliierten bislang aber immer Einigkeit
demonstriert. Dazu gehörten der gegenseitige Schutz und das
Zueinanderhalten.

In Bündniskreisen wird allerdings auch darauf verwiesen, dass die
bereits 1952 zur Nato gestoßene Türkei zuletzt ein eher schwieriger
Partner gewesen sei. So hat sie beispielsweise bei zahlreichen
Alliierten für große Verärgerung gesorgt, weil sie ausgerechnet von
Russland ein modernes Luftabwehrsystems (S-400) kaufen will.

...für die EUROPÄISCHE UNION?

Von der EU-Hauptstadt Brüssel aus wird mit großer Sorge auf den
Konflikt geblickt - vor allem wegen der finanzpolitischen und
wirtschaftlichen Konsequenzen. Europäische Großbanken wie die BBVA
(Spanien), Unicredit (Italien) oder BNP Paribas (Frankreich) sind
stark in der Türkei engagiert und könnten deswegen auch von einem
möglichen Zusammenbruch des türkischen Finanzsystems erheblich
getroffen werden.

Dramatische Folgen könnte es für die EU zudem haben, wenn es in der
Türkei zu Chaos kommt und infolgedessen der 2016 geschlossene
Flüchtlingspakt mit der EU nicht mehr eingehalten werden würde.
Dieser sieht vor, dass die EU alle Migranten, die illegal über die
Türkei auf die griechischen Inseln kommen, zurückschicken kann. Im
Gegenzug nehmen EU-Staaten der Türkei Schutzbedürftige aus Syrien ab
und finanzieren Hilfen für in der Türkei lebende Flüchtlinge. Ihre
Zahl wurde zuletzt mit rund 3,5 Millionen angegeben.

Dass sich die EU proaktiv als Vermittler in den Streit zwischen den
USA und der Türkei einschaltet, gilt dennoch als unwahrscheinlich.
Ein Grund dafür ist, dass die EU selbst eine spannungsgeladene
Beziehung zur Türkei hat und deswegen sogar die
EU-Beitrittsverhandlungen zum Stillstand gekommen sind. Zudem waren
die EU-Staaten noch bis vor Kurzem selbst in einen schweren
Handelskonflikt mit den USA verwickelt.

«Es wird die EU noch viel Zeit & Arbeit kosten, um den derzeitigen
Waffenstillstand wieder in eine dauerhafte, stabile transatlantische
Handelsbeziehung zu verwandeln», schrieb der Generalsekretär der
EU-Kommission, Martin Selmayr, jüngst zum Thema. «Die Situation ist
und bleibt fragil. Es gilt dicke Bretter zu bohren.»

... für die SYRIEN-KRISE?

Nirgendwo stehen sich US-amerikanische und türkische Truppen so
unmittelbar gegenüber wie im Norden Syriens. Dort unterstützt
Washington kurdische Verbände, die große Erfolge gegen die
Terrormiliz IS erzielt haben. Sie kontrollieren ein Gebiet von
Hunderten Kilometern entlang der Grenze.

Die Türkei sieht die Einheiten unter der Führung der Gruppe YPG an
ihrer Grenze allerdings als syrischen Ableger der verbotenen
kurdischen Arbeiterpartei PKK. Zweimal marschierte sie mit
protürkischen Rebellen bereits in den Nordwesten Syriens ein und
eroberte kurdisch kontrolliertes Gebiet, zum Beispiel in Afrin.

Die Spannungen, die dadurch zwischen den USA und der Türkei
entstanden, wurden erst im Juni mit einem gemeinsamen «Fahrplan»
mühsam gekittet. Die Probleme in den bilateralen Beziehungen könnten
diesen aber gefährden. Ein direkter militärischer Konflikt gilt aber
als unwahrscheinlich.

Auch die diplomatischen Bemühungen für eine Gesamtlösung des
Syrien-Konflikts werden durch den türkisch-amerikanischen Streit
komplizierter. Für nachhaltige Lösungsansätze müssen neben den Russ
en
und Türken auch die Amerikaner mit am Tisch sitzen. Erdogan hat zum
nächsten Syriengipfel am 7. September aber nur Deutschland,
Frankreich und Russland eingeladen, nicht aber die USA.

...für die DEUTSCH-TÜRKISCHEN BEZIEHUNGEN?

Es war eigentlich schon alles für einen Herbst der Entspannung in den
deutsch-türkischen Beziehungen vorbereitet. Ende September kommt
Erdogan zu seinem ersten Staatsbesuch nach Deutschland. Außenminister
Heiko Maas plant noch davor seinen Antrittsbesuch in der Türkei.
Wirtschaftsminister Peter Altmaier wird im Oktober in Ankara
erwartet. Die Eskalation des Streits mit den USA trübt die
Erwartungen an den gegenseitigen Besuchsreigen zunächst einmal ein.

Deutschland hat seit zwei Jahren ein ähnliches Problem mit der Türkei
wie die USA. Seit dem gescheiterten Putschversuch 2016 wurden mehr
als 30 deutsche Staatsbürger in der Türkei inhaftiert, denen ähnliche

Terrorvorwürfe wie dem US-Pastor Brunson gemacht wurden. Davon sitzen
nach offiziellen Angaben sieben bis heute hinter Gittern.

Deswegen stellte sich Außenminister Maas in dem Streit auch auf die
Seite der USA und forderte indirekt eine Freilassung Brunsons - wie
auch der inhaftierten deutschen Häftlinge. «Das würde die Lösung de
r
wirtschaftlichen Probleme, die es gibt, ganz erheblich vereinfachen»,
sagt der SPD-Politiker an die Adresse der türkischen Regierung.

Erdogan dürfte das kaum gefallen. Andererseits sind die
Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland und der EU für ihn enorm
wichtig - gerade in der jetzigen Krisenlage. Er dürfte also an einem
möglichst harmonischen Staatsbesuch interessiert sein.