Weiter Vermisste unter Trümmern in Genua - Suche nach Schuldigem

15.08.2018 17:38

Während die Retter zwischen den Trümmerbergen nach Vermissten suchen,
machen die Politiker Schuldige für die Tragödie in Genua aus. Viele
sagen: Der Einsturz der Brücke war kein Unglück.

Genua (dpa) - Nach dem Brückeneinsturz von Genua mit rund 40 Toten
werden noch viele Menschen vermisst - und die Schuldzuweisungen gehen
weiter. Mitglieder der neuen populistischen Regierung machten am
Mittwoch den privaten Betreiber der Autobahn für das Unglück
verantwortlich. Die Vize-Regierungschefs Luigi Di Maio und
Matteo Salvini zeigten mit dem Finger in Richtung früherer
Regierungen und der EU. Die EU-Kommission wies die Kritik zurück.

Während eines schweren Unwetters war am Dienstagmittag der 40 Meter
hohe Polcevera-Viadukt, der auch Morandi-Brücke genannt wird, auf
einem etwa 100 Meter langen Stück eingestürzt. Die Brücke ist Teil

der Autobahn 10, die auch als Urlaubsverbindung «Autostrada dei
Fiori» bekannt und eine wichtige Verbindungsstraße nach
Südfrankreich, in den Piemont und die Lombardei ist.

Papst Franziskus gedachte auf dem Petersplatz vor 20 000 Gläubigen
der Opfer. Die Staatsanwaltschaft gab die vorläufige Zahl der Toten
mit 42 an, während die Präfektur von 39 sprach. Unter den Opfern sind
mindestens drei Minderjährige im Alter von 8, 12 und 13 Jahren. 16
Menschen seien verletzt, der Zustand von 12 Menschen sei kritisch,
teilte die Präfektur mit.

Es werde erwartet, dass die Zahlen weiter steigen, sagte
Regionalpräsident Giovanni Toti laut Nachrichtenagentur Ansa nach
einem Besuch von Verletzten in einem Krankenhaus zusammen mit
Regierungschef Giuseppe Conte. Für den Großteil der Verletzten gebe
es gute Heilungschancen. Es gebe aber unter der Brücke noch immer
«zahlreiche Vermisste», sagte Toti. Rettungskräfte berichteten von
Fahrzeugen, die noch immer in den Trümmern zu sehen seien. Italien
will eine Staatstrauer für die Opfer ausrufen.

Unter den Toten der Katastrophe sind auch vier Franzosen. Man stehe
in engem Kontakt zu den italienischen Behörden, um herauszufinden, ob
möglicherweise noch weitere Landsleute bei der Katastrophe ums Leben
gekommen seien, teilte das französische Außenministerium mit. Zwei
rumänische Staatsbürger wurden ebenfalls identifiziert, teilte das
Außenministerium in Bukarest mit. Ob möglicherweise Deutsche unter
den Opfern sind, war nicht bekannt. Aus dem Auswärtigen Amt in Berlin
hieß es, das Generalkonsulat Mailand stehe in engem Kontakt mit den
italienischen Behörden.

Gegen den Betreiber Autostrade per l'Italia seien Schritte
eingeleitet worden, um die Lizenz für die Straße zu entziehen und
eine Strafe von bis zu 150 Millionen Euro zu verhängen, erklärte
Verkehrsminister Danilo Toninelli am Mittwoch auf Facebook. Er
forderte das Management zum Rücktritt auf. Auch der Fünf-Sterne-Chef

und Vize-Ministerpräsident Luigi Di Maio machte das Unternehmen für
die Tragödie verantwortlich, das von allen Vorgängerregierungen
gedeckt worden sei. Das Unternehmen verteidigte sich gegen die
Vorwürfe: Die Brücke sei alle drei Monate kontrolliert worden.

Nach Ansicht von Innenminister Salvini untergraben die
europäischen Vorgaben zum Haushaltsdefizit die Sicherheit des Landes.
Geld, das für die Sicherheit ausgegeben werde, dürfe «nicht nach den

strengen (...) Regeln berechnet werden, die Europa uns auferlegt»,
sagte der EU-kritische Politiker am Mittwoch dem Sender Radio24.
«Immer muss man um Erlaubnis fragen, um Geld auszugeben», prangerte
er an. Davon dürfe aber nicht die Sicherheit auf den Straßen, bei der
Arbeit und in den Schulen, «in denen immer mal wieder die Decken
einstürzen», abhängen.

Ein Sprecher der EU-Kommission wies dagegen darauf hin, dass
EU-Staaten politische Prioritäten im Rahmen der geltenden
Haushaltsregeln selbst festlegen könnten - «zum Beispiel die
Entwicklung und den Erhalt der Infrastruktur». Tatsächlich habe die
EU Italien sogar dazu ermuntert, in die Infrastruktur zu investieren.

Augenzeugen hatten berichtet, dass kurz vor dem Einsturz ein Blitz in
die Brücke eingeschlagen habe. Doch Staatsanwalt Francesco Cozzi ließ
im Gespräch mit RaiNews24 erkennen, dass auch die Ermittler von
menschlichem Versagen als Ursache ausgehen. Zum jetzigen Zeitpunkt
von einem Unglück zu reden, obwohl es sich bei der Brücke um ein
«Werk von Menschen» handele, das Instandhaltungen unterzogen worden
sei, «erscheint mir ziemlich gewagt», sagte Cozzi.

Die Infrastruktur in Italien ist vielerorts dramatisch veraltet. Die
Katastrophe an der «kranken Brücke», wie die Zeitung «Corriere dell
a
Sera» sie nennt, lässt nach mehreren weniger dramatischen Einstürzen

in den vergangenen Jahren nun die Alarmglocken umso lauter schrillen.
Laut der Tageszeitung «La Repubblica» sind um die 300 Brücken und
Tunnel marode.

Der Polcevera-Viadukt wurde 1967 eingeweiht und führt im Westen
von Genua unter anderem über Gleisanlagen und ein Gewerbegebiet, er
hat eine Gesamtlänge von 1182 Metern. Zum Zeitpunkt der Tragödie
waren laut Betreibergesellschaft Bauarbeiten im Gange. Mehrmals gab
es Diskussionen um eine Alternative für die Brücke, an der ständig
gearbeitet werden musste.

Der Ingenieur Riccardo Morandi entwarf Brücken auch in anderen
Ländern der Welt: Im Westen von Venezuela etwa überspannt die rund
8,6 Kilometer lange General-Rafael-Urdaneta-Brücke den Maracaibo-See
und verbindet die Erdölstadt Maracaibo mit dem Rest des Landes. Im
April 1964 riss ein Öltanker zwei Stützpfeiler ein. Sieben Menschen,
die zum Zeitpunkt des Unglücks über die Brücke fuhren, kamen dabei
ums Leben. Die Brücke ist heute wieder in Betrieb.

In Kolumbien baute Morandi in den 1970er Jahren nahe der Hafenstadt
Barranquilla die Pumarejo-Brücke über den Magdalena-Fluss. Aufgrund
ihres Designs steht die Brücke schon länger in der Kritik, weil sie
recht niedrig ist und damit die Durchfahrt großer Schiffe verhindert.
Derzeit wird in der Nähe eine neue Brücke gebaut. Nach der
Fertigstellung soll die Pumarejo-Brücke abgerissen werden.