Hunderttausende demonstrieren in London für zweites Brexit-Referendum Von Silvia Kusidlo, dpa

20.10.2018 18:51

In weniger als einem halben Jahr will Großbritannien die EU
verlassen. Die Kampagne «People's Vote» kämpft für ein neue
Brexit-Abstimmung - und organisierte einen Protestzug in London.

London (dpa) - Es war einer der größten Protestzüge in London seit
Jahren: Etwa 670 000 Menschen haben nach Veranstalterangaben am
Samstag in der britischen Hauptstadt gegen den Brexit demonstriert.
Bürgermeister Sadiq Khan, ein Labour-Politiker, sprach von einem
«historischen Moment» der Demokratie.

Aufgerufen zu dem Marsch hatte die Kampagne «People's Vote», die ein
zweites Referendum zum EU-Austritt durchsetzen will. Nach ihrem
Willen sollen die Briten das Recht bekommen, über ein finales
Abkommen abzustimmen.

Der Protestzug führte durch das Zentrum Londons bis zum Parlament.
Die Veranstalter hatten rund 100 000 Teilnehmer erwartet, die Zahl
wurde aber weit übertroffen. Offizielle Behördenzahlen gab es
zunächst nicht. Es könnte sich Medienberichten zufolge um die größt
e
Demonstration seit 15 Jahren in der Hauptstadt handeln.

Aus Wales, Südengland und selbst von den über 1000 Kilometer
entfernten Orkney-Inseln vor der Nordküste Schottlands kamen Menschen
nach London, um ihren Ärger Luft zu machen. Familien mit Kindern
beteiligten sich ebenso wie EU-freundliche Abgeordnete der
regierenden Konservativen.

Die politisch angeschlagene Premierministerin Theresa May hatte
allerdings schon zuvor klar gemacht: Ein zweites Referendum soll es
nach ihrem Willen nicht geben.

«Das ist doch alles Banane! Total verrückt!», schimpfte Jacki Hughes

aus Lancaster im Nordwesten Englands über den geplanten Brexit im
Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Und ihr Freund Anthony
Brown ergänzte: «Wir wollen in der EU bleiben. Ich möchte kein Visum

beantragen müssen, wenn ich zum Beispiel Deutschland besuche.»

Ein anderer Brite hielt ein Schild in die Luft mit der Aufschrift:
«Papa war hier». Warum? «Ich kämpfe hier auch für mein Kind und m
eine
Frau, die Italienerin ist.» Der Brexit sei außerdem wirtschaftlicher
Unsinn, sagte er.

Beim Referendum 2016 sei der EU-Austritt als «einfachster Deal in der
Geschichte» verkauft worden, so «People's Vote», ein Zusammenschluss

mehrerer Gruppierungen. Inzwischen wisse man aber, welche Kosten der
Brexit verursache und welchen Schaden er den Arbeitnehmerrechten
zufüge. Kritik wurde auch an der Abwanderung von ausländischen Ärzten

und Pflegepersonal sowie am schwächelnden Pfund geübt.

Ein 69-jähriger Demonstrant aus dem Südwesten sagte: «Das ist das
erste Mal in meinem Leben, dass ich mich politisch engagiere.» Auch
Prominente aus dem Kulturbereich wie Schauspieler Andy Serkis («Der
Herr der Ringe») tauchten in der Menge auf.

An dem Protestzug bei schönstem Wetter nahmen auch zahlreiche
Studenten teil, von denen sich viele wegen ihres Alters noch nicht an
dem Brexit-Referendum 2016 beteiligen durften. Damals hatte eine
knappe Mehrheit (52 Prozent) der Briten für den Austritt gestimmt.
Großbritannien will Ende März 2019 die EU verlassen.

Die Verhandlungen mit Brüssel stecken in einer Sackgasse. May steht
deshalb unter einem enormen Druck, auch in ihrer eigenen Partei weht
ihr ein scharfer Wind entgegen. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit,
dass sich London ohne Abkommen von der EU trennt. Dies würde Folgen
für alle Lebensbereiche haben und voraussichtlich zu wirtschaftlichen
Einbußen führen. Viele Unternehmen treffen bereits Vorkehrungen.

Vor einem ungeregelten Brexit warnte auch eindringlich die
SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl, Katarina Barley. Die Folgen
könnten dramatisch sein, sagte die Bundesjustizministerin den
Zeitungen der Funke Mediengruppe (Samstag) und der französischen
Zeitung «Ouest-France». «Für unendlich viele Fragen gäbe es keine

Regelung - vom Status der jeweiligen Staatsbürger bis hin zum
Flugverkehr zwischen Großbritannien und dem Kontinent.»

Die Brexit-Verhandlungen stocken vor allem wegen der Irland-Frage.
London und Brüssel wollen zwar Kontrollen und Schlagbäume an der
derzeit nahezu unsichtbaren Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und
dem britischen Nordirland vermeiden, damit in der fragilen
Ex-Bürgerkriegsregion nicht wieder Unruhen aufflammen. Sie konnten
sich aber bislang nicht auf eine praktikable Lösung einigen.

Um Zeit für eine dauerhafte Regelung zu gewinnen, brachte die EU nun
die Verlängerung der geplanten Übergangsphase nach dem EU-Austritt
ins Gespräch. Statt bis Ende 2020 könnte sie ein Jahr länger dauern.