Chancen für Brexit-Deal sinken - keine Verschiebung der Abstimmung Von Silvia Kusidlo und Verena Schmitt-Roschmann, dpa

09.12.2018 18:16

Bei der Brexit-Abstimmung am Dienstag im Londoner Parlament dürfte
Premierministerin May eine Schlappe erleiden. Zweite Abstimmung,
Rücktritt, Neuwahl - was werden die Konsequenzen sein?

London/Brüssel (dpa) - Kurz vor der entscheidenden Brexit-Abstimmung
am Dienstag im Londoner Parlament wird eine Niederlage für
Premierministerin Theresa May immer wahrscheinlicher. Am Sonntag
warnte sie ihre Parteimitglieder eindringlich davor, gegen das mit
Brüssel ausgehandelte Abkommen zum EU-Austritt zu stimmen. Im Falle
einer Niederlage sind auch ein Rücktritt Mays und Neuwahlen möglich.

«Wenn ihr den Brexit wollt, dann holt ihn euch, und darum geht es bei
diesem Deal», sagte May der «Mail on Sunday». Oppositionsführer
Jeremy Corbyn warte nur darauf, Neuwahlen zu erzwingen. Ein Nein zum
Deal würde große Unsicherheiten mit sich bringen. Es bestünde dann
auch die Gefahr, dass Großbritannien gar nicht mehr die EU verlasse.

Berichten über eine Verschiebung der Abstimmung im Unterhaus
widersprach Downing Street. «Die Abstimmung wird am Dienstag
stattfinden», sagte eine Regierungssprecherin der Deutschen
Presse-Agentur. Zuvor hatte die «Sunday Times» behauptet, dass May
mehr Zeit für Gespräche in Brüssel gewinnen wolle, um den Sturz ihrer

Regierung zu verhindern. «Das ist Spekulation», sagte die Sprecherin.

May will laut «Sunday Times» mit einem «Handtaschen-Moment» neue
Bedingungen aushandeln. Dies spielt auf einen Auftritt der damaligen
Premierministerin Margaret Thatcher bei einem EU-Gipfel 1984 an, als
sie mehr Beitragsrabatt für ihr Land aushandelte. Die «Eiserne Lady»

stellte mehrmals demonstrativ ihre Handtasche auf den Tisch.

Die britische Arbeitsministerin Amber Rudd sprach sich öffentlich für
das Norwegen-Plus-Modell als «Plan B» aus, der eine
fraktionsübergreifende Mehrheit bekommen könnte. Bei diesem Modell
würde Großbritannien im Europäischen Binnenmarkt und in der Zollunion

bleiben. Norwegen ist Mitglied im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR),
aber nicht in der EU. Großbritannien könnte zusätzlich eine Zollunion

mit Brüssel beschließen - also Norwegen plus. Bei Kritikern ist diese
Lösung allerdings als zu weicher Brexit verschrien. Sie befürchten,
dass nahezu alles beim Alten bleibt, auch die Personenfreizügigkeit.

Als Alternative hält Rudd auch ein zweites Referendum für denkbar.
Sie selbst würde in einem solchen Fall für den Verbleib in der
Europäischen Union stimmen. Ihre persönliche Ansicht habe sich
inzwischen nicht geändert, betonte Rudd in der «Times».
Großbritannien will Ende März 2019 die Staatengemeinschaft verlassen.


Die Polizei verhängte am Sonntag scharfe Restriktionen, um
Zusammenstöße zwischen zwei Protestzügen in London zu verhindern.
Angeführt von dem rechtsextremen Aktivisten Tommy Robinson
demonstrierten Tausende für den Brexit. Der Gründer der
islamfeindlichen Organisation English Defence League protestierte
gemeinsam mit Anhängern der EU-feindlichen Ukip-Partei. Robinson ist
ein Berater von Ukip-Chef Gerard Batten. Unterstützer der
oppositionellen Labour-Partei organisierten eine große Gegendemo.

Mehr als 100 Tories haben bereits signalisiert, dass sie nicht mit
dem Brexit-Abkommen einverstanden sind. Auch die nordirische DUP, auf
deren Stimmen Mays Minderheitsregierung angewiesen ist, und die
Opposition kündigten Widerstand an. Labour-Chef Corbyn wittert in
Neuwahlen seine Chance. Mehrere Minister und andere hochrangige
Regierungsvertreter sind bereits aus Protest zurückgetreten. Weitere
Rücktritte in den nächsten Tagen werden nicht ausgeschlossen.

Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im
Bundestag, Norbert Röttgen, zählt zu den Befürwortern eines neues
Brexit-Referendums. Die Volksabstimmung scheine die einzige
Möglichkeit zu sein, wie Großbritannien aus dem «Chaos, in dem das
Land mit dem ersten Referendum gestrandet ist, wieder herauskommen
kann», sagte der CDU-Politiker den Zeitungen der Funke Mediengruppe.

Der sozialdemokratische Europa-Spitzenkandidat Frans Timmermans lud
die Briten ausdrücklich ein, den Brexit zu stoppen. Die Welt und die
EU hätten sich seit dem Brexit-Votum 2016 geändert, sagte der
Vizepräsident der EU-Kommission in Lissabon. Er verwies auf Risiken
durch die Politik des russischen Präsidenten Wladimir Putin und des
US-Präsidenten Donald Trump, der Interesse an einem geteilten Europa
habe. Der Wunsch aus dem Brexit-Referendum, Kontrolle
zurückzugewinnen, lasse sich am besten gemeinsam erfüllen.