«Happy Katarina» und der Scheideweg Von Georg Ismar, dpa

09.12.2018 15:37

Bei der SPD ist vom Scheideweg die Rede - vor allem wenn es um Europa
geht. Es beschreibt auch die innere Lage, viele halten Parteichefin
Andrea Nahles für kaum noch tragbar - nun ist auch noch die Hoffnung
Friedrich Merz geplatzt. Neue Hoffnung macht dafür eine andere Frau.

Berlin (dpa) - Katarina Barley hat schon Angst, dass ihre Redezeit
verstreicht, ohne dass sie ein Wort geredet hat. Bereits bevor sie
ihre Bewerbungsrede am Sonntag bei einem kleinen Parteitag in Berlin
beginnt, will der Applaus nicht enden. Als sie endlich anfangen kann,
impft sie der Partei neuen Mut ein. Die knapp 200 Delegierten
belohnen es: Mit 99 Prozent wird Barley zur Spitzenkandidatin für die
Europawahl Ende Mai gewählt. «Wir stehen am Scheideweg», sagt sie mit

Blick auf die nationalistischen Bewegungen in Europa.

Am Scheideweg steht aber irgendwie auch die SPD. Und vor allem eine,
der die Herzen nicht so zufliegen: Andrea Nahles. Barley (50) hat ein
sonniges Gemüt, wird als «Happy Katarina» von den Genossen gefeiert -

am Freitag war bei einer Gala Hollywoodstar Richard Gere («Pretty
Woman») so von der SPD-Justizministerin angetan, dass er spontan
Händchen mit ihr hielt. «Ich trage Europa bei mir in jeder Form, in
meinem Herzen sowieso, aber auch in meiner Handtasche», sagt sie mit
Blick auf ihre zwei Pässe. Die Mutter ist Deutsche, der Vater Brite.

Sie ruft ihre Partei zu einem «geilen» Wahlkampf auf. «Europa ist die

Antwort» lautet das Motto. Ein europäischer Mindestlohn, mehr soziale
Absicherung, die Menschen mehr in den Fokus nehmen - damit sollen
Europafeinde und rechte Hetzer in die Schranken gewiesen werden.

Barley wird ihr Amt zur Wahl am 26. Mai abgeben und nach Brüssel
wechseln - ihre Aufgabe dort ist noch völlig unklar, vielleicht
Fraktionschefin im Europaparlament. Denn sie ist «nur» die nationale
Spitzenkandidatin - Spitzenkandidat aller europäischen
Sozialdemokraten ist der Niederländer Frans Timmermans. Er will
Jean-Claude Juncker als EU-Kommissionschef beerben, aber die besseren
Karten hat da der Kandidat der europäischen Konservativen, Manfred
Weber (CSU). «Die Nationalisten von links wie rechts wollen Europa
zerstören», sagt Timmermans bei dem SPD-Treffen. «Die
Sozialdemokraten wollen Europa weiterführen.»

Es ist wie jüngst das SPD-Debattencamp auch eine Mutmachveranstaltung
- aber es spricht nicht für das Selbstbewusstsein der Partei, dass
die Hoffnung auf einen Aufschwung zuletzt vor allem den Namen
Friedrich Merz trug. Mit ihm als CDU-Chef hofften viele, das Profil
in der schwarz-roten Koalition durch mehr Streit schärfen zu
können. Man sehnte sich nach einem klar greifbaren Gegner, einen
«Millionär aus der Finanzindustrie», nannte SPD-Vizechef Ralf Stegner

Merz. Nun ist es anders gekommen. Nahles attestiert
Kramp-Karrenbauer, sie trete als Angela Merkels CDU-Nachfolgerin
in «große Fußstapfen».

Merkel war 18 Jahre Parteichefin, bei Nahles wetten derzeit nur
wenige darauf, dass sie 18 Monate schafft. Ein Bundestagsabgeordneter
spricht von teils gespenstischen Szenen in Sitzungen, wenn Nahles
kaum Applaus bekommt. Zugleich wird es als unfair kritisiert, dass
alle Schuld für den Umfrageabsturz auf 14 Prozent bei ihr abgeladen
wird. Die herumkrebsende SPD ist verunsichert bis verzweifelt. 

Sicher, mit Kramp-Karrenbauer wird es wahrscheinlicher, dass die
Koalition mit Kanzlerin Merkel an der Spitze hält. Aber während die
CDU, der man gerne fehlende innerparteiliche Demokratie vorwarf, im
Rennen um Merkels Nachfolge erblühte und in Umfragen wieder auf 30
Prozent kletterte, verdankt Nahles ihren Vorsitz einer Absprache im
kleinen Zirkel, etwa mit Olaf Scholz.

Die Parteichefin rackert sich zwar ab, aber es läuft kaum etwas rund.
Erst die Maaßen-Affäre, jetzt blockieren auch alle SPD-Länder eine
Grundgesetzänderung für die künftige Bund/Länder-Finanzierung und
damit auch das Milliardenprogramm für mehr Computer, Tablets und
digitale Infrastruktur an Schulen. Und es fehle an klarer
Kommunikation, wird kritisiert. Was zum Beispiel die «doppelte
Haltelinie bei der Rente» bedeutet, ist vielen unklar. «Bei den
Grünen weiß man glasklar, wofür sie stehen», sagt ein
SPD-Mann. «Flüchtlinge, Klima, Verkehr, da weißt du, was du kriegst

Abgeordneten kreiden Nahles ein Wagenburg-Verhalten an, falsche
Beratung, fehlendes Basisgespür und «infantile Auftritte» wie das
Abküssen von Griechenlands Premier Alexis Tsipras beim
SPD-Debattencamp.

Einige fordern als Signal an junge Wähler eine noch stärkere
Einbindung von Juso-Chef Kevin Kühnert - seine Vizechefin Delara
Burkhardt (26) wurde am Sonntag auf Platz fünf gesetzt und wird wohl
in das Europaparlament einziehen. Nahles größter Verbündeter ist im
Moment die Angst vor einem Debakel bei einer Neuwahl - und der Mangel
an Interessenten für den Parteivorsitz. Als bestgeeigneter Kandidat
fällt immer wieder der Name des niedersächsischen Ministerpräsidenten

Stephan Weil.

Es gibt im Prinzip gerade zwei sozialdemokratische Parteien - die
Regierungs-SPD von Scholz, die Spaß am Regieren hat und erleichtert
die Wahl Kramp-Karrenbauers zur CDU-Chefin zur Kenntnis genommen hat,
weil «AKK» mit Kanzlerin Merkel gut harmonieren dürfte. Und dann ist

da die frustrierte Basis-SPD, die sich eher Merz wünschte, um wieder
klarer Unterschiede herausstreichen zu können.

Viel wird nun von den nächsten Wochen abhängen - auch ob Barleys
Sympathien ein wenig auf Nahles abstrahlen. «Wir empfinden diese
nächste Europawahl als eine Schicksalswahl», sagt Nahles am Sonntag.
Das könnte am Ende auch für ihr eigenes Schicksal gelten.