Flucht vor Brexit-Chaos: May auf Rettungsmission in Europa

11.12.2018 15:51

Nach der Verschiebung der Brexit-Entscheidung im britischen Parlament
ist die Lage verworren. Kommt nun der gefürchtete chaotische Brexit -
oder findet sich doch noch ein Ausweg?

Brüssel/London (dpa) - In schier aussichtsloser politischer Lage hat
die britische Premierministerin Theresa May am Dienstag versucht, der
Europäischen Union neue Zugeständnisse beim Brexit abzuringen. Sie
reiste im Zickzack durch halb Europa, unter anderem zu Kanzlerin
Angela Merkel. Doch lehnt die EU Änderungen am Vertrag zum britischen
EU-Austritt geschlossen ab. Bestenfalls «Klarstellungen» seien
denkbar, sagte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Nun wächst
wieder die Furcht vor einem Chaos-Brexit in gut drei Monaten.

May hatte wegen einer drohenden Niederlage die für Dienstagabend
geplante Abstimmung im britischen Parlament über ihr
Brexit-Vertragspaket mit der EU verschoben. Stattdessen kündigte sie
an, weitere «Zusicherungen» der EU zu erreichen und so die Bedenken
im Unterhaus auszuräumen. Zum neuen Termin erklärte die britische
Regierung nur, das Votum solle vor dem 21. Januar stattfinden.

Am Dienstagmorgen traf May zunächst den niederländischen
Ministerpräsidenten Mark Rutte in Den Haag. Mittags sprach sie mit
Bundeskanzlerin Merkel und CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer in
Berlin und wollte dann weiter zu Treffen mit EU-Ratschef Donald Tusk
und Juncker in Brüssel. Über Inhalte wurde zunächst nichts bekannt.

Auch was May konkret erreichen will, blieb nach ihrer Ankündigung am
Montagabend vage. Hauptstreitpunkt in Großbritannien ist die Garantie
für eine offene Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und dem
britischen Nordirland, der sogenannte Backstop. Konservative
Brexit-Befürworter befürchten, dass die im Austrittsvertrag
vorgesehene Lösung Großbritannien nach dem Brexit auf Dauer eng an
die EU bindet. Sie wollen eine Befristung. Das hat die EU aber stets
abgelehnt.

Juncker bekräftigte im Europaparlament, eine Änderung des Backstops
sei ausgeschlossen. «Er ist nötig, nötig für das gesamte Paket
dessen, was wir mit Großbritannien verhandelt haben, und nötig für
Irland», sagte der Kommissionschef und stellte klar: «Jeder muss
wissen, dass der Austrittsvertrag nicht noch einmal aufgemacht wird.»

Gleichwohl signalisierte er etwas Entgegenkommen: «Es gibt genug
Spielraum, um weitere Klarstellungen und weitere Interpretationen zu
geben, ohne das Austrittsabkommen noch einmal aufzumachen.» Die EU
könnte May nach Darstellung von Diplomaten in einer gesonderten
Erklärung zusichern, dass man gemeinsam alles versuchen werde, den
Backstop niemals anzuwenden.

Ob diese Notfalllösung gebraucht wird, hängt von den künftigen
Beziehungen Großbritanniens mit der EU ab. Diese sollen erst in einer
Übergangsphase nach dem Austritt am 29. März 2019 ausgehandelt
werden. Findet man eine Alternative für eine offene Grenze auf der
irischen Insel, käme der Backstop nicht zum Tragen. Die EU wollte
aber die Garantie unbedingt, weil die britischen Ideen zur künftigen
Partnerschaft noch keine Lösung erkennen lassen.

In der Debatte im Europaparlament äußerten sich Abgeordnete
ungeduldig wegen der politischen Blockade in London. Der
CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok meinte aber, dass Mays Gespräche in
Europa ihr womöglich doch noch zu einer Mehrheit im Unterhaus
verhelfen könnten. Vielleicht könne man klarstellen, dass der
Backstop kein «böser Trick der EU sei». Dennoch halte er einen harten

Brexit ohne Deal zunehmend für wahrscheinlich. «Das Problem ist, dass
wir in Großbritannien keinen Partner haben», sagte Brok.

Auch Europastaatsminister Michael Roth warnte in Brüssel: «Die Zeit
läuft aus. Das wissen alle Beteiligten.» Das britische Parlament
werde bald Weihnachtspause machen und erst im Januar zurückkehren.
«Wir müssen uns auf alles vorbereiten - nach wie vor auf einen harten
Brexit, den am Ende ja niemand will», sagte der SPD-Politiker.

Die 27 bleibenden EU-Länder stehen allem Anschein nach geschlossen
hinter der Linie der EU-Kommission, die das Verhandlungsmandat hat.
Auch in der deutschen Innenpolitik herrscht vor allem Kopfschütteln
über Großbritannien. FDP-Fraktionsvize Alexander Graf Lambsdorff
nannte die Lage dort im MDR «absurdes Theater». Grünen-Europaexpertin

Franziska Brantner sprach von «Brexit-Harakiri».

Die Wirtschaftsverbände BDI und DIHK wandten sich dagegen, das
Brexit-Paket noch einmal aufzuschnüren. Der Präsident des
Großhandelsverbands BGA, Holger Bingmann, warnte aber im SWR vor
einem «völlig ungeordneten Katastrophenszenario». Der europäische
Wirtschaftsverband Business Europe klagte: «Jeder Tag der
Unsicherheit kostet Unternehmen bares Geld.» Firmen bereiteten sich
auf einen chaotischen Brexit vor. Doch sei Europa für ein
No-Deal-Szenario nicht ausreichend gewappnet.