Nein zum Brexit-Vertrag: EU und Merkel fordern klare Linie von London

16.01.2019 15:03

Über viele Monate hinweg hatte Großbritannien über einen
Austrittsvertrag aus der EU verhandelt. Doch das erzielte Abkommen
fällt im Londoner Parlament krachend durch. Nun sind die Sorgen vor
einem chaotischen Brexit groß.

London/Berlin/Straßburg (dpa) - Nach der historischen Ablehnung des
Brexit-Vertrages im britischen Parlament fordern EU-Spitzenpolitiker
zügige Ansagen der Regierung in London. Großbritannien müsse nun
alleine eine Lösungsmöglichkeit entwickeln, wurde Kanzlerin Angela
Merkel am Mittwoch nach einer Sitzung im Auswärtigen Ausschuss des
Bundestages von Teilnehmern zitiert. Die CDU-Politikerin habe sich
gegen Neuverhandlungen des Austrittvertrages zwischen London und
Brüssel ausgesprochen. Gesprächen über eine Präzisierung des
Verhältnisses Großbritanniens mit der EU würde sie sich aber nicht
verweigern. Die Zeit drängt: Großbritannien will die Europäische
Union am 29. März verlassen.

In London muss sich Premierministerin Theresa May nach ihrer
Niederlage im britischen Unterhaus am Mittwochabend einer
Misstrauensabstimmung stellen. Es gilt als wahrscheinlich, dass sie
die nötigen Stimmen bekommt und weitermachen kann. An diesem Montag
will sie einen Plan B vorlegen, um einen chaotischen EU-Austritt
Großbritanniens ohne Abkommen doch noch zu verhindern. Wenn ein «No
Deal»-Austritt ohne Abkommen verhindert werden soll, muss es bis Ende
März eine Einigung geben.

Ihre Bemühungen um einen geregelten Brexit will Merkel indes
fortsetzen. «Wir wollen den Schaden - es wird in jedem Fall einen
Schaden geben durch den Austritt Großbritanniens - so klein wie
möglich halten. Deshalb werden wir natürlich versuchen, eine
geordnete Lösung weiter zu finden», sagte sie. Die Bundesregierung
sei aber auch vorbereitet, wenn es keine geordnete Lösung gebe.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker habe eine gemeinsame
Linie mit den europäischen Hauptstädten abgesteckt, sagte sein
Sprecher Margaritis Schinas in Brüssel. Er forderte die britische
Regierung erneut auf, zunächst ihre Position zu klären. «Zum jetzigen

Zeitpunkt gibt es nichts, was die EU noch tun könnte», sagte Schinas.

Außenminister Heiko Maas forderte die Briten auf, ihre Position
möglichst schnell zu klären. «Die Zeit der Spielchen ist jetzt
vorbei», sagte der SPD-Politiker im Deutschlandfunk. Die
SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl, Katarina Barley, forderte
zügige Vorschläge von London, wie das weitere Verfahren aussehen
könne.

«Ein geordneter Austritt bleibt in den nächsten Wochen unsere
absolute Priorität», sagte EU-Chefunterhändler Michel Barnier im
Europaparlament. Allerdings sei die Gefahr eines «No Deal»-Brexits so
groß wie nie. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier warnte vor den
möglichen Folgen: «Es würden alle in Europa verlieren», sagte der
CDU-Politiker im «Morgenmagazin» des ZDF. Vor allem die Briten würden

unter einem ungeregeltem Ausstieg leiden. Dies hätte schwere
Konsequenzen für Wohlstand und Arbeitsplätze.

Am Dienstagabend hatte das Parlament das zwischen Brüssel und London
ausgehandelte Brexit-Abkommen überraschend deutlich abgelehnt.
Premierministerin May kündigte an, sich mit allen Parteien zu
treffen, falls das Parlament ihr das Vertrauen ausspreche.

EU-Politiker sehen jetzt Großbritannien am Zuge. «Bitte, bitte,
bitte, sagt uns endlich, was ihr erreichen wollt», appellierte der
Fraktionschef der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber (CSU), an
das britische Parlament. Gleichzeitig bekräftigten die EU-Politiker,
dass sie keine Alternative zu dem in Großbritannien abgelehnten
Austrittsabkommen sehen und Nachbesserungen oder Zugeständnisse an
London ablehnen. «Die Einigung, die wir mit der britischen Regierung
gefunden haben - diese Vereinbarung von fast 600 Seiten - ist eine
gute Vereinbarung», sagte EU-Chefunterhändler Michel Barnier. «Es ist

natürlich ein Kompromiss. Aber es ist der bestmögliche Kompromiss.»

In der Wirtschaft und bei Verbrauchern sorgte die Ablehnung des
Abkommens für Verunsicherung. «Ein «No Deal» bedeutet nicht einfach

nur Güterhandel mit Zöllen, sondern dürfte den Handel zwischen der EU

und Großbritannien vorübergehend komplett zum Erliegen bringen»,
sagte der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW),
Dennis Snower. Der Präsident des Maschinenbauverbandes VDMA, Carl
Martin Welcker, nannte es «schlicht verantwortungslos, dass die
britische Regierungskoalition zehn Wochen vor dem Austrittstermin
noch um eine einheitliche Position streitet».

Der Chef des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv), Klaus Müller,
forderte, Großbritannien müsse alles für einen geregelten Austritt
tun. Viele Verbraucher planten bereits ihren Osterurlaub. «Sie
brauchen dringend Klarheit darüber, welche Regeln dann gelten werden
und ob sie bei einem Urlaub in Großbritannien noch auf ihre gewohnten
Rechte vertrauen können.» Pharmaverbände warnen im Falle eines
ungeordneten Brexits vor Engpässen bei Medikamenten.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hält es für wahrscheinlich,
dass die Briten nachverhandeln und dann erneut im Parlament abstimmen
wollen. Er sei aber nicht sonderlich davon überzeugt, denn beim
Brexit-Deal sei man schon zum Äußersten gegangen.

Dass die Briten erneut über den Brexit abstimmen könnten, hält der
britische Botschafter Sebastian Wood für unwahrscheinlich. «Im Moment
sehe ich keine Mehrheit im Parlament für ein zweites Referendum»,
sagte er im ZDF-«Morgenmagazin».

Die Anleger an den Aktienmärkten reagierten gelassen auf die klare
Ablehnung des Brexit-Abkommens. Europas Börsen legten sogar ein wenig
zu.