Labour-Austritte: Großbritanniens politisches System in der Krise Von Silvia Kusidlo und Christoph Meyer, dpa

18.02.2019 13:53

Nur knapp sechs Wochen vor dem Brexit gibt es einen Paukenschlag bei
Labour. Mehrere Abgeordnete verlassen die größte britische
Oppositionspartei. Ausgelöst wurde der Bruch durch Streit über den
EU-Austritt und Antisemitismusvorwürfe.

London (dpa) - Aus Protest gegen den Führungsstil des britischen
Labour-Chefs Jeremy Corbyn sind am Montag sieben prominente
Mitglieder aus der Partei ausgetreten. Sie kritisieren vor allem den
Brexit-Kurs und den Umgang mit antisemitischen Tendenzen in der
größten Oppositionspartei. Die Abgeordneten gründen nun eine
«unabhängige Gruppe» im Parlament und riefen andere Politiker dazu
auf, sich ihnen anzuschließen. Die Abspaltung wird als Symptom für
eine größere Krise des britischen Parteien-Systems gewertet.

Corbyn zeigte sich in einer Reaktion «enttäuscht» über den Austritt
.
«Die konservative Regierung vermasselt den Brexit, während Labour
einen glaubwürdigen und einenden Plan vorgelegt hat», sagte der
Oppositionschef einer Mitteilung zufolge.

Besonders hart dürfte die britischen Sozialdemokraten der Rücktritt
des charismatischen Abgeordneten Chuka Umunna treffen. Er gilt als
Jungstar seiner Partei und führt eine Gruppe an, die ein zweites
Brexit-Referendum fordert. «Wir haben uns der altmodischen Politik
dieses Landes entledigt und eine Alternative geschaffen», sagte
Umunna auf einer Pressekonferenz in London.

Zu den sieben Abgeordneten zählen neben Umunna auch Luciana Berger,
Chris Leslie, Angela Smith, Gavin Shuker, Mike Gapes and Ann Coffey.
Unklar war zunächst, ob die ausgetretenen Abgeordneten längerfristig
eine neue Partei gründen wollen. Die Erfolgsaussichten gelten als
bescheiden.

Das Wahlsystem in Großbritannien, das nur das Direktmandat kennt,
bevorzugt die beiden großen Parteien. Kleinere Parteien haben es
extrem schwer, Sitze im Parlament zu erringen. Doch beide großen
Parteien tun sich zunehmend schwer damit, eine klare
Regierungsmehrheit zu gewinnen.

Hinzu kommt, dass sich sowohl Labour als auch die Tories aus der
politischen Mitte zum jeweiligen Extrem hin entwickelt haben. Bei den
Konservativen sind es die Brexit-Hardliner, die nun den Ton angeben.
Bei Labour ist der linke Rand inzwischen am Steuer. Viele gemäßigte
Abgeordnete in beiden Parteien sind damit unzufrieden.

Die Krise zeigt sich besonders im Streit um den Brexit. Das Parlament
ist unfähig, sich auf einen Kurs zu einigen. Die Gefahr eines
ungeregelten EU-Austritts am 29. März steigt.

Schon länger wird befürchtet, dass Labour auseinanderbrechen könnte.

Die Meinungen über Corbyn, der auf eine Neuwahl setzt, gehen stark
auseinander. Viele werfen dem Alt-Linken vor, im Streit um den
EU-Austritt zu lange keine klare Position bezogen zu haben. Ihm wird
Mangel an Enthusiasmus für die EU vorgeworfen. Viele Anhänger hat er
dagegen bei jungen Wählern, die er in Scharen in die Partei zog.

Kürzlich stellte Corbyn Premierministerin Theresa May die
Unterstützung seiner Partei in Aussicht, falls sie beim Brexit eine
Zollunion und eine Anbindung an den EU-Binnenmarkt akzeptiere. May
lehnte dies strikt ab. Großbritannien will die Europäische Union in
bereits knapp sechs Wochen - am 29. März - verlassen.

Zudem werden seit Jahren Antisemitismus-Vorwürfe gegen Corbyn und
seine Partei erhoben. Im vergangenen Sommer räumte er öffentlich in
einem Video ein, dass Disziplinarverfahren gegen antisemitische
Parteimitglieder zu langsam und zaghaft betrieben worden seien.
Kritiker werfen dem 69-Jährigen außerdem eine einseitige
Unterstützung der Palästinenser im Nahostkonflikt vor.

Der europapolitische Sprecher der FDP-Fraktion im Bundestag, Michael
Georg Link, sieht in den Parteiaustritten bei Labour eine «Quittung
für Jeremy Corbyns egoistische Brexit-Politik, die seinen
persönlichen Ambitionen alles andere unterordnet». Er erhofft sich
davon jedoch einen neuen Impuls für die festgefahrene Debatte über
den Brexit.