Britisches Parlament stimmt für Brexit-Verschiebung Von Silvia Kusidlo, Christoph Meyer und Verena Schmitt-Roschmann, dpa

14.03.2019 21:13

Der Brexit soll nach dem Willen des britischen Parlaments verschoben
werden. Und Premierministerin May will schon nächste Woche wieder
über ihren Deal abstimmen lassen - inzwischen das dritte Mal.

London/Brüssel (dpa) - Zwei Wochen vor dem geplanten Brexit hat das
britische Parlament für eine Verschiebung des EU-Austritts gestimmt.
Die Abgeordneten votierten am Donnerstag in London mit großer
Mehrheit - 412 zu 202 Stimmen - für eine Fristverlängerung.

Nach dem Willen von Premierministerin Theresa May soll Großbritannien
nicht am 29. März, sondern bis Ende Juni die EU verlassen. Möglich
ist aber auch eine deutliche längere Verschiebung des Brexits.

Die Umsetzung müssen aber noch alle 27 übrigen EU-Mitgliedstaaten
billigen. «Es wird Sache des Europäischen Rates sein, einen solchen
Antrag zu prüfen», sagte eine Kommissionssprecherin in Brüssel.

In der kommenden Woche sollen die Abgeordneten bereits zum dritten
Mal über das zwischen May und Brüssel ausgehandelte Brexit-Abkommen
abstimmen. Zwei Mal hatte die Premierministerin damit schon im
Unterhaus eine herbe Niederlage einstecken müssen.

Die Parlamentarier hatten am Donnerstag mehrere Änderungsanträge
abgelehnt: Sie überließen May vorerst weiter die Kontrolle über den
Brexit-Prozess. Mit überwältigender Mehrheit sprachen sich die
Abgeordneten gegen ein zweites Referendum über den EU-Austritt aus.
Der exzentrische Brexit-Hardliner Jacob Rees-Mogg frohlockte, eine
Volksabstimmung der Verlierer sei nun vom Tisch. Doch die Befürworter
eines zweiten Referendums kündigten an, weiter für ihre Sache kämpfen

zu wollen.

Ein Wermutstropfen für May: Mehr als die Hälfte ihrer eigenen
Abgeordneten stimmte gegen die von ihr vorgeschlagene Verlängerung.
Darunter waren unter anderem Brexit-Minister Stephen Barclay,
Verteidigungsminister Gavin Williamson, Handelsminister Liam Fox und
Verkehrsminister Chris Grayling.

Der ursprüngliche Brexit-Termin in zwei Wochen war nicht zu halten,
da Unterhaus und Regierung im Brexit-Kurs heillos zerstritten sind.
May verknüpfte die Abstimmung über die Verschiebung indirekt mit
einer Entscheidung über ihr Brexit-Abkommen. Ihr zufolge sollen die
Abgeordneten die Wahl zwischen einer langen und einer kurzen
Verschiebung haben.

Nur wenn die Abgeordneten bis zum 20. März - also einen Tag vor dem
nächsten EU-Gipfel - für ihren Deal stimmten, sei eine kurze
Verschiebung des Austritts bis zum 30. Juni möglich, betonte die
Regierungschefin. Jede längere Verschiebung mache eine Teilnahme
Großbritanniens an der Europawahl (23. bis 26. Mai) nötig. Das neu
gewählte EU-Parlament will am 2. Juli erstmals zusammentreten.

Ratspräsident Donald Tusk will in der Europäischen Union für einen
langen Aufschub des Brexits werben, wie er im Kurznachrichtendienst
Twitter ankündigte. Vor dem EU-Gipfel Ende nächster Woche «werde ich

an die EU27 appellieren, für eine lange Verlängerung offen zu sein,
wenn Großbritannien es für nötig hält, seine Brexit-Strategie zu
überdenken und Konsens herzustellen», schrieb Tusk.

Mit der Zustimmung Brüssels für eine Brexit-Verschiebung wird zwar
gerechnet. Allerdings gibt es auf EU-Seite noch keine einheitliche
Linie. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte sich zuletzt
für eine kurze Verschiebung ausgesprochen. Der Brexit solle vor der
Europawahl Ende Mai abgeschlossen sein, erklärte er.

Den Vorschlag für ein zweites Brexit-Referendum hatte eine
unabhängige Gruppe aus ehemaligen Labour- und Tory-Abgeordneten
eingebracht. Die Ablehnung hat keine rechtlich bindende Wirkung. Nach
Angaben der britischen Wahlkommission wären für ein zweites
Brexit-Referendum mindestens vier, eher sechs Monate an
Vorbereitungen notwendig. Dies wäre nur mit einer längerfristigen
Verschiebung des Brexits machbar.

Am Mittwochabend hatte das Unterhaus gegen einen EU-Austritt ohne
Abkommen gestimmt. Die Abgeordneten verabschiedeten mit 321 zu 278
Stimmen einen Beschluss, der einen ungeordneten Brexit - anders als
von der Regierung gewollt - in jedem Fall ablehnt. Die Entscheidung
ist allerdings rechtlich nicht bindend. Ein sogenannter No Deal hätte
weitreichende negative Folgen für die Wirtschaft und andere Bereiche.

Massive Kritik an Mays Brexit-Management übte US-Präsident Donald
Trump. «Ich bin überrascht, wie schlecht es gelaufen ist», sagte er
zum Auftakt eines Besuchs von Irlands Premierminister Leo Varadkar in
Washington. «Sie hat nicht auf mich gehört.» Trump hofft, dass die
USA finanziell vom Brexit profitieren: «Meine Regierung freut sich
darauf, einen umfangreichen Handelsdeal mit Großbritannien
auszuhandeln. Das Potenzial ist unbegrenzt!», twitterte er zuvor.

Die britische Abgeordnete Wera Hobhouse von den Liberaldemokraten
rechnet mit einer langen Verschiebung des EU-Austritts. «Der große
Streit um die Seele Großbritanniens (...) dauert länger als drei
Monate», sagte die in Deutschland geborene Politikerin der dpa.

Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) sieht noch keinen
Grund zur Entwarnung. «Ein ungeregelter Brexit ist nicht vom Tisch,
die Verunsicherung für die Wirtschaft wird in die Länge gezogen»,
sagte DIHK-Präsident Eric Schweitzer in Berlin. «Viele Unternehmen
planen aufgrund der unklaren Rahmenbedingungen bereits ganz konkret,
Investitionen von der Insel abzuziehen und in andere Märkte ... zu
verlagern.»

Knackpunkt im Brexit-Streit ist der sogenannte Backstop. Das ist eine
im Austrittsabkommen festgeschriebene Garantie für eine offene Grenze
zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland. Die
Regelung sieht vor, dass Großbritannien in einer Zollunion mit der
Europäischen Union bleibt, bis eine bessere Lösung gefunden ist.

Brexit-Hardliner fürchten, dies könnte das Land dauerhaft an die
Staatengemeinschaft fesseln und eine eigenständige Handelspolitik
unterbinden. Sie hatten daher eine zeitliche Befristung oder ein
einseitiges Kündigungsrecht für den Backstop gefordert.

May führt seit einer verpatzten Neuwahl im Sommer 2017 eine
Minderheitsregierung an, die die Unterstützung der nordirischen
Partei DUP benötigt. Sie ist auf jede Stimme im Parlament angewiesen.