Von der Leyens Europa: Kandidatin skizziert politische Leitlinien

10.07.2019 19:56

Noch ist ihr die Mehrheit für die Wahl zur EU-Kommissionschefin
längst nicht sicher. Deshalb wirbt Ursula von der Leyen im
Europaparlament für sich. Erstmals äußert sie sich über ihre
europapolitischen Ziele.

Brüssel (dpa) - Mehr Demokratie in der Europäischen Union, ein neues
Klimaziel für 2030, ein Mindestlohn in jedem EU-Staat: Ursula von der

Leyen hat am Mittwoch erstmals ihre Ziele für den Fall ihrer Wahl zur
Präsidentin der EU-Kommission präsentiert. Dabei skizzierte sie Pläne

für die Klima-, Sozial-, Migrations- und Sicherheitspolitik und
betonte den Einsatz für Grundwerte und den Rechtsstaat. Drastische
Kurswechsel zur Politik der vergangenen Jahre sind nicht erkennbar.
Allerdings ging sie in einigen Punkten deutlich über bekannte
christdemokratische Positionen hinaus. Auf viele Fragen antwortete
sie jedoch eher ausweichend.

Die CDU-Politikerin war in der vergangenen Woche überraschend von den
Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union für die Nachfolge
von EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker nominiert worden. In der
Position würde sie die großen Linien und Prioritäten der EU
mitbestimmen. Sie wäre Chefin von mehr als 30 000 Mitarbeitern in der
Kommission, die auch für die Einhaltung von EU-Recht zuständig ist.

Das Europaparlament stimmt voraussichtlich am kommenden Dienstag über
die Personalie ab. Da die Mehrheit noch nicht sicher ist, wirbt von
der Leyen um die Unterstützung der Abgeordneten der großen
Fraktionen. Die Liberalen und die Grünen übertrugen ihr Treffen mit
der Kandidatin live.

Beim Klimaschutz kündigte von der Leyen an, sich für Klimaneutralität

bis 2050 einsetzen zu wollen. Dies bedeutet, Emissionen drastisch
zurückzufahren und den Rest auszugleichen, etwa durch Aufforstung
oder Speicherung. Die EU-Staaten hatten sich zuletzt nicht darauf
einigen können. Auch kurzfristig will von der Leyen sich für deutlich
verschärfte Ziele einsetzen. Eine Verminderung der Treibhausgase um
50 Prozent bis 2030 sei möglich. Bisher hat sich die EU für das Jahr
2030 eine Minderung der Klimagase um 40 Prozent vorgenommen, gemessen
an 1990. Konkret sprach sie sich für die Einbindung des Flug-,
Schiffs- und Straßenverkehrs in den europäischen Emissionshandel aus.

Auch beim sozialen Themen kündigte von der Leyen Entgegenkommen an.
Sie werde für einen Mindestlohn in jedem EU-Land kämpfen. Jemand, der
Vollzeit arbeite, müsse davon seinen Lebensunterhalt bestreiten
können. Damit griff von der Leyen eine Forderung unter anderem der
Sozialdemokraten aus dem Europawahlkampf auf. Auch eine
Arbeitslosenrückversicherung stellte sie in Aussicht.

In Sachen Migration will von der Leyen sich für gemeinsame Regeln bei
Asyl und Einwanderung starkmachen. Es müsse übergreifende Regeln
dafür geben, wer Anspruch auf Asyl habe und wer nicht. Die blockierte
Reform der Dublin-Regeln müsse «mit aller Kraft» angegangen werden.
In den Herkunftsländern der Migranten müsse die Situation verbessert

werden. Für eine eigene EU-Mission zur Seenotrettung sprach von der
Leyen sich hingegen nicht aus.

Beim Brexit zeigte sie sich offen für eine weitere Verschiebung des
britischen EU-Austritts. Wenn Großbritannien mehr Zeit brauche, um
dem vorliegenden Brexit-Vertrag zuzustimmen, dann halte sie das für
richtig. Von der Leyen betonte mehrfach, dass sie sich einen Verbleib
der Briten wünsche. Der Brexit musste bereits zwei Mal verschoben
werden, weil das britische Parlament weder einem Ausscheiden ohne
Abkommen noch dem mit Brüssel ausgehandelten Deal zustimmen wollte.
Derzeit ist der Brexit für Ende Oktober geplant. Den vorliegenden
Brexit-Vertrag bezeichnete von der Leyen als «guten Deal».

Sie plädierte außerdem dafür, Pläne für eine «Armee der Europ
äer»
voranzutreiben. Mit Blick auf die Verteidigungs- und
Sicherheitspolitik sagte sie: «Ich glaube, es ist Zeit, dass Europa
mehr Verantwortung übernimmt.» In der Außenpolitik will sie, dass
künftig Entscheidungen im Rat der EU-Staaten nicht nur einstimmig
getroffen werden können. So soll die EU im Krisenfall schneller
reagieren können.

Die Eurozone und die kontrollfreie Schengenzone sollten aus Sicht der
Kandidatin weitere EU-Staaten aufnehmen, sobald sie die Bedingungen
dafür erfüllen. Sie plädierte zudem dafür, die Tür der EU für L
änder
in Osteuropa und auf dem Balkan offen zu halten. Speziell
Nordmazedonien bezeichnete von der Leyen als leuchtendes Beispiel.
«Ich bin überzeugt, dass wir den Westbalkan viel ernster nehmen
müssen», sagte sie.

In Teilen des Parlaments gibt es Widerstand gegen die Wahl von der
Leyens. Dies liegt vor allem daran, dass sie nicht als
Spitzenkandidatin ihrer Partei im Europawahlkampf angetreten war.
Eine Mehrheit des Europaparlaments hatte sich eigentlich darauf
festgelegt, nur einen Spitzenkandidaten zu wählen. Von der Leyen
kündigte nun an, sich für ein neues Spitzenkandidatenmodell
starkmachen zu wollen. Es brauche ein Modell, das sowohl vom
Parlament als auch von den Staats- und Regierungschefs akzeptiert
werde. Darüber hinaus unterstützte sie die Forderung der Liberalen
nach einer Demokratie-Konferenz zur Reform der EU. Sie sprach von
breit angelegten Bürgerdialogen, die in Gesetze münden sollen.

Die Liberalen und die Sozialdemokraten wollten sich am Mittwoch noch
nicht festlegen, ob sie von der Leyen kommende Woche wählen werden.
Dies hänge davon ab, ob von der Leyen ihre Forderungen aufnehme,
sagte der liberale Fraktionschef Dacian Ciolos.

Die Fraktionschefin der Sozialdemokraten, Iratxe García Pérez,
kündigte an: «Unsere Gruppe wird erneut über die Wahl beraten. Wir
werden nächste Woche eine Entscheidung treffen.» Vor allem die 16
deutschen SPD-Abgeordneten im Europaparlament lehnen die Wahl von der
Leyens ab. SPD-Europapolitiker Jens Geier beklagte am Mittwoch, von
der Leyen sei wolkig geblieben. «Konkrete Zusagen sind größtenteils
ausgeblieben oder hinter unseren Forderungen zurückgeblieben.»

Und auch die Grünen wurden deutlich: Frau von der Leyen sei einfach
keine Kommissionspräsidentin, die die Fraktion unterstützen könne,
sagte Ko-Fraktionschef Philippe Lamberts.