Die Bewährungsprobe: Fünf Lehren aus der Wahl Ursula von der Leyens Von Verena Schmitt-Roschmann

17.07.2019 14:09

Die neue EU-Kommissionspräsidentin hat viel versprochen. Aber was
kann sie davon überhaupt umsetzen? Und was bedeutet das für die 500
Millionen Europäer?

Straßburg (dpa) - Nun also Ursula von der Leyen. Nach fünf Jahren
übergibt der seit Jahrzehnten auf dem Brüsseler Parkett erfahrene
Luxemburger Jean-Claude Juncker im Herbst der Überraschungskandidatin
aus Deutschland die Geschäfte der EU-Kommission. Die CDU-Politikerin
kommt mit einigen Problemen im Gepäck - vor allem ihr äußerst knappes

Ergebnis im Europaparlament mit etlichen Stimmen von EU-Kritikern.
Fünf Lehren aus einer umstrittenen Wahl:

1. Von der Leyens Pläne könnten die EU umkrempeln

Von der Leyen hat im Ringen um eine Mehrheit viel versprochen,
darunter ein klimaneutrales Europa bis 2050, Mindestlöhne in ganz
Europa, eine europäische Arbeitslosen-Rückversicherung, bessere Löhne

für Frauen, gerechtere Unternehmensteuern, sicherere Grenzen und eine
neue Migrations- und Asylpolitik. Sie will der EU auch mehr Gewicht
auf der Weltbühne verschaffen, mit schnelleren Entscheidungen in der
Außenpolitik und mehr Zusammenarbeit in der Verteidigung. Letzteres
trauen Experten der langjährigen deutschen Verteidigungsministerin
auch zu. «Die Ernennung von Ursula von der Leyen bietet die Chance
für einen Neuanfang der europäischen Außenpolitik», kommentierte Ma
rk
Leonhard vom European Council on Foreign Relations.

2. Das wäre für alle in Europa spürbar

Vieles klingt abstrakt und die Mühlen der EU mahlen oft langsam, aber
einige Pläne haben es in sich. So bedeutet zum Beispiel von der
Leyens Versprechen, die Treibhausgase um bis zu 55 Prozent bis 2030
zu senken, einen schnellen Kurswechsel. Kohlendioxid müsse einen
Preis haben, sagt die neue Kommissionschefin, und das wird konkrete
Folgen an der Tankstelle oder beim Reisen nach sich ziehen,
beziehungsweise beim nächsten Autokauf oder beim Umbau des eigenen
Häuschens. Eine Garantie gegen Kinderarmut und ein Plan in Kampf
gegen den Krebs könnten auch das Leben von Menschen in Deutschland
verändern. Die Frage, wie künstliche Intelligenz entwickelt und
eingesetzt wird, könnte Hunderttausende Menschen im Beruf berühren.

3. Eine Mehrheit muss sie dafür erst noch finden - das ist aber nicht
unmöglich

Aber kann von der Leyen das alles überhaupt durchsetzen? Die neue
Präsidentin hatte im Parlament eine hauchdünne Mehrheit von nur neun
Stimmen. Und diese kam offenbar nur zustande, weil EU-kritische
Abgeordnete wie jene der polnischen Regierungspartei PiS für sie
votierten. Die wiederum finden unter anderem die Klimapläne
hanebüchen, zumal Polen seinen Strom weit überwiegend aus Kohle
bezieht. Noch im Juni verhinderten Polen und andere eine Festlegung
der EU auf eine klimaneutrale Wirtschaft bis 2050.

Trotzdem ist von der Leyens Mission nicht aussichtslos. Es gibt eine
EU-freundliche Mehrheit aus Europäischer Volkspartei,
Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen im Parlament. Bei der Wahl
verweigerten die Grünen und ein etwa Drittel der Sozialdemokraten der
Kandidatin die Stimme. Doch wäre das unwahrscheinlich bei
Gesetzesvorhaben, die ihre Ziele umsetzen.

4. Von der Leyen muss sich persönlich bewähren

Die langjährige deutsche Ministerin trifft vor allem bei deutschen
Abgeordneten im Parlament auf großes Misstrauen - und ausweislich
Meinungsumfragen auch bei den Bürgern in Deutschland. So sagte zum
Beispiel der SPD-Europapolitiker Jens Geier, von der Leyen habe zwar
viele Punkte der Sozialdemokraten aufgegriffen, aber es herrsche
Skepsis, ob sie das auch wirklich anpacke.

Die Grünen äußerten sich ähnlich. «Bei vielen Themen sagt von der

Leyen schöne Worte, aber es fehlt die Substanz», warf ihr zum
Beispiel der Abgeordnete Sven Giegold vor ihrer Wahl vor. Danach
reichte Fraktionschefin Ska Keller aber die Hand und schrieb auf
Twitter: «Gerne arbeiten mit Ihnen zusammen für mehr Klimaschutz,
Seenotrettung, Rechtsstaatlichkeit und soziale Gerechtigkeit in
Europa!»

5. Am Ende könnte die EU demokratischer werden

Die große Hypothek, mit der von der Leyen antritt, ist die Abkehr vom
Spitzenkandidatenprinzip: Die CDU-Politikerin hat in der Europawahl
nicht kandidiert. Dafür wurden die Spitzenkandidaten des Parlaments
ausgebootet, obwohl sie im Wahlkampf gesagt hatten, einer von ihnen
werde Kommissionschef. Nur war das Wunschdenken. Der Rat der Staats-
und Regierungschefs hatte dies 2018 ausdrücklich nicht zugesagt.

Nach dem Schlamassel der vergangenen Wochen hat von der Leyen
versprochen, bei Verhandlungen mit dem Rat zu moderieren, um das
Verfahren mit den Spitzenkandidaten für die Zukunft abzusichern.
Zudem will sie Bürger bei einer Konferenz zur Zukunft Europas zu Wort
kommen lassen. Das ist nicht ganz neu, Bürgerdialoge gab es auch in
den vergangenen Jahren schon - nach Angaben der EU-Kommission seit
2014 mehr als 1200 mit mehr als 160 000 Europäern. Große Auswirkungen
hatte das nicht. Aber nun geht es neu los, und der Fortschritt ist
bekanntlich eine Schnecke.