DGB warnt vor Änderungen nach Arbeitszeit-Urteil

04.08.2019 14:14

Zurück zur Stechuhr? Ein europäisches Urteil wirft viele Fragen auf.
Welche Konsequenzen hat das für Baden-Württemberg? Die Gewerkschaften
befürchten einen Dammbruch.

Stuttgart (dpa/lsw) - Arbeitgeber müssen die gesamte Arbeitszeit
ihrer Beschäftigten systematisch erfassen: Das hat der Europäische
Gerichtshof (EuGH) im Mai entschieden. Das Urteil stieß bei den
Gewerkschaften auf Zustimmung, aber drei Monate danach befürchten
sie, dass in der Folge nun das Arbeitszeitgesetz zulasten der
Arbeitnehmer geändert werden könnte. Der Landesvorsitzende des
Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), Martin Kunzmann, hofft daher,
«dass in der Praxis gar nichts dabei rauskommt».

Aus Sicht von Baden-Württembergs Wirtschaftsministerin Nicole
Hoffmeister-Kraut (CDU) macht das Urteil eine Gesetzesänderung
notwendig: «Ich bin überzeugt, dass bei einer
Arbeitszeitgesetz-Reform auch überholte und unflexible Regelungen auf
den Prüfstand kommen müssen, wie etwa die zu den täglichen
Höchstarbeitszeiten.» Hoffmeister-Kraut will die tägliche
Höchstarbeitszeit von zehn auf zwölf Stunden ausweiten. Auch der
Deutsche Hotel- und Gaststättenverband möchte die
Arbeitszeitregelungen gerne flexibler gestalten.

«Mit dem jetzigen Arbeitszeitgesetz kommen wir gut klar», hält
Kunzmann dagegen. «Ich finde es gut, wenn Arbeitszeit erfasst wird.
Aber dafür hätte ich kein EuGH-Urteil gebraucht.» Denn dies sei auch

bisher schon Pflicht der Arbeitgeber. In Zeiten von Digitalisierung
und künstlicher Intelligenz erfordere die Dokumentation der
Arbeitszeit keinen großen bürokratischen Aufwand.

«Wir wollen nicht die Zwölf-Stunden-Arbeitszeit als Möglichkeit, die

dann das Team erwartet», sagt auch der Personalrat des Klinikums
Stuttgart, Volker Mörbe. «Das übersteigt die Kräfte der Leute.» A
us
Rücksicht gegenüber Kollegen und Patienten muteten sich viele
Mitarbeiter schon jetzt zu viel zu. «Die machen sich dabei relativ
schnell kaputt.» Viele Pflegekräfte gäben daher nach einigen Jahren
den Beruf auf.

«Man hat immer mehr Aufgaben, als man bewältigen kann», meint der
Bosch-Betriebsrat Klaus Kutzias. Viele junge Mitarbeiter, die frisch
von der Uni kommen, seien zwar hoch motiviert. «Die arbeiten rund um
die Uhr. Man muss aber aufpassen, dass die sich nicht kaputt machen.»
Zu schützen seien auch diejenigen, die nicht so viel arbeiten können
oder wollen: «Das sind dann «Minderleister», obwohl sie nur das
arbeiten, was sie eigentlich müssen nach Vertrag.»

Der Landesbezirkssekretär der Gewerkschaft NGG, Alexander Münchow,
befürchtet, eine Ausweitung auf zwölf Stunden könnte «gnadenlos
ausgenutzt» werden: In der Hotel- und Gaststättenbranche würde es
dann in der Praxis Arbeitszeiten von bis zu 15 Stunden geben. Vor
allem wegen der Entgrenzung der Arbeitszeit leide die Branche schon
jetzt unter einem hohen Personalmangel. Arbeitsmedizinisch sei
erwiesen: «Alles über acht Stunden Arbeiten ist
gesundheitsgefährdend.»

In einem Tourismusland wie Baden-Württemberg müssten die
Arbeitsplätze im Hotelgewerbe deutlich attraktiver gemacht werden,
fordert Münchow. Nötig seien daher auch mehr Kontrollen, mehr
Personal bei Gewerbeaufsichtsämtern und bei der Finanzkontrolle
Schwarzarbeit.

Die Vize-Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion und Pforzheimer
Bundestagsabgeordnete Katja Mast meinte, Bundesarbeitsminister
Hubertus Heil sei daran, das EuGH-Urteil in nationales Recht
umzusetzen. Arbeitnehmer müssten geschützt werden, und es dürfe nicht

zu zuviel Bürokratie geben. Klar sei: «Die Aufzeichnungspflicht beim
Mindestlohn war, ist und bleibt richtig. Wir werden keinen Vorschlag
unterbreiten, der Willkür Tür und Tor öffnet.» Nach Angaben der
wirtschaftspolitischen Sprecherin der Landtags-Grünen, Andrea
Lindlohr, steht der Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer im
Vordergrund. «Eine pauschale Ausweitung der Tageshöchstarbeitszeit
auf zwölf Stunden lehnen wir deshalb ab.» Flexibilisierungen im
Arbeitszeitgesetz seien dann sinnvoll, wenn Tarif- und
Betriebsparteien dadurch mehr Gestaltungsmöglichkeiten hätten.