Brexit-Stratege Dominic Cummings: Genie oder «Karrierepsychopath»? Von Christoph Meyer und Silvia Kusidlo, dpa

13.08.2019 06:15

Ist ein EU-Austritt ohne Abkommen noch abzuwenden? Ein Blick auf
Premierminister Boris Johnsons wichtigsten Berater, Dominic Cummings,
lässt nichts Gutes hoffen. Er will das politische System auf den Kopf
stellen.

London (dpa) - Der neue britische Premierminister Boris Johnson will
sein Land am 31. Oktober aus der Europäischen Union führen - um jeden
Preis. Selbst einen Brexit ohne Abkommen will er in Kauf nehmen,
sollte sich die EU nicht auf seine Forderungen einlassen. Nicht nur
in Brüssel wird gerätselt, ob Johnson nur blufft oder ob er es ernst
meint. Die wirtschaftlichen Konsequenzen wären wohl vor allem für
Großbritannien drastisch.

Einen Hinweis könnte die Wahl von Johnsons wichtigstem Berater geben.
Dominic Cummings hat inzwischen die Fäden im britischen
Regierungssitz Downing Street in der Hand. Der Architekt der
Pro-Brexit-Kampagne Vote Leave vor dem Referendum im Jahr 2016 gilt
als genialer Wahlkampfstratege ohne Skrupel.

Es spricht einiges dafür, dass er hinter der knallharten Festlegung
auf einen Austritt am 31. Oktober steht. Als eine der ersten
Amtshandlungen ließ Johnson eine Digitalanzeige im Regierungssitz
installieren, die den Countdown bis zum Austrittsdatum anzeigt -
angeblich auf Drängen Cummings. Der «Guardian» zitierte jüngst
Regierungsinsider, der 47-Jährige habe in der Downing Street eine
«Terrorherrschaft» errichtet. Mitarbeiter seien in ständiger Angst um

ihre Arbeitsplätze.

Cummings ist kein typischer EU-Gegner. Er träumt nicht von einer
Rückkehr in die glanzvollen Zeiten des Empires wie viele der
konservativen Brexit-Hardliner. Er macht keinen Hehl daraus, dass er
die meisten Politiker und Regierungsbeamten für völlig unfähig hält
.
Ex-Brexit-Minister David Davis bezeichnete er einst als «dumm wie
Brot und faul wie eine Kröte».

Für Cummings ist der Brexit ein Vehikel, um das System umzukrempeln.
Einen Einblick in seine Gedankenwelt gibt er auf seinem
Internet-Blog. Dort sind ausufernde Aufsätze zu finden, bei denen er
oft einen weiten Bogen über Themen wie Bildung, Regierungsführung bis
hin zu Mathematik und Raumfahrt schlägt.

Politische Institutionen und Abläufe sind seiner Ansicht nach
fehlgeleitet. «Das ist, warum ich und ein paar andere auf das
Referendum gesetzt haben - wir wussten, dass die systemische
Dysfunktionalität unserer Institutionen und der Einfluss der grotesk
Inkompetenten uns die Gelegenheit für extreme Hebelwirkung bot»,
schreibt er auf seinem Blog.

Cummings ist ein Verehrer des Reichskanzlers Otto von Bismarcks. Wie
sein Vorbild hat er wenig übrig für die Parlamentarische Demokratie.
Womit er sie verbessern oder gar ersetzen will, bleibt aber diffus.
Für die chinesische Führung äußert er Respekt wegen deren effizient
er
Entscheidungsfindung. Statt internationaler Organisationen wie der
Vereinten Nationen und der Europäischen Union schlägt er eine
bemannte Station auf dem Mond vor, um globale Konflikte zu vermeiden.

Neue Formen der Ausbildung, Mitarbeiterrekrutierung und Kommunikation
sollen zu optimierten Entscheidungsprozessen in der Regierung führen.
Besprechungsräume stellt er sich vor wie Kontrollräume der
US-Weltraumbehörde Nasa mit Dutzenden Bildschirmen und interaktiven
oder sogar begehbaren Diagrammen.

Sein Drang zu radikaler Veränderung geht soweit, dass er Berichten
zufolge auch bereit wäre, einen No-Deal-Brexit gegen den
ausdrücklichen Willen des Parlaments durchzusetzen. Sollte die
Abgeordneten dem Premierminister etwa vor dem EU-Austritt noch das
Vertrauen entziehen, könnte der sich seinem Rücktritt solange
verweigern, bis mit Ablauf der Brexit-Frist Tatsachen geschaffen
sind, äußerte sich Cummings angeblich in Regierungskreisen.
Kolportiert wurde auch, Johnson könnte den Termin für eine Neuwahl
auf den Tag nach dem Brexit legen, so dass die Wähler möglichst wenig
Zeit hätten, sich über das Ausmaß eines No Deals klar zu werden.

Ob Cummings und sein Chef Johnson damit durchkämen, ist umstritten.
Einige Verfassungsexperten weisen darauf hin, dass Königin Elizabeth
II. eingreifen müsste, sollte Johnson trotz eines Misstrauensvotums
nicht zurücktreten oder der Streit vor Gericht landen. Den
Abgeordneten steht zudem noch der Weg offen, eine Verschiebung des
EU-Austritts per Gesetz zu erzwingen, bevor es zum No Deal kommt.

Der frühere Premierminister David Cameron bezeichnete Cummings einst
als «Karrierepsychopathen». Doch der 47-Jährige ist kein Dummkopf.
Möglicherweise sind seine Provokationen schon Teil einer
Wahlkampfstrategie. Eine Wahl ließe sich für die Konservativen wohl
nur gewinnen, wenn nicht die Regierung, sondern das Parlament für
eine weitere Brexit-Verschiebung verantwortlich gemacht werden
könnte. Ob Cummings und Johnson vor einem No Deal Halt machen würden,

wenn es darum geht, eine Wahl zu gewinnen, scheint nicht sicher.