Johnsons Kabinett zeigt Zerfallserscheinungen

08.09.2019 04:26

Der britische Premierminister Boris Johnson verliert mit seinem
kompromisslosen Brexit-Kurs zunehmend an Rückhalt im Kabinett. Werden
dem Rücktritt von Arbeitsministerin Amber Rudd bald weitere folgen?

London (dpa) - Nach dem Rücktritt von Arbeitsministerin Amber Rudd
wird in Großbritannien bereits über einen weiteren Zerfall des
Kabinetts von Premierminister Boris Johnson spekuliert. Rudd hatte
ihr Amt in der Regierung und ihre Fraktionsmitgliedschaft am
Samstagabend aus Protest gegen den Brexit-Kurs Johnsons niedergelegt.
Der Rücktritt der als gemäßigt geltenden Politikerin ist ein schwerer

Schlag für den Regierungschef.

Sie glaube nicht mehr daran, dass ein geregelter EU-Austritt das
Hauptziel der Regierung sei, schrieb Rudd in einem Brief an Johnson.
«Die Regierung steckt viel Energie in die Vorbereitungen für einen No
Deal, aber ich habe nicht das gleiche Maß an Intensität in den
Gesprächen mit der Europäischen Union gesehen (...)», teilte Rudd
mit.

Auch der Rauswurf von Abgeordnetenkollegen durch Johnson aus der
Tory-Fraktion am Dienstag habe zu dem Schritt beigetragen. «Ich kann
nicht zusehen, wie gute, loyale, moderate Konservative ausgeschlossen
werden», schrieb Rudd. «Ich kann diesen politischen Vandalismus nicht
mittragen.» Deshalb trete sie auch aus der Fraktion aus.

Johnson hatte am Dienstag 21 Tory-Rebellen aus der Fraktion geworfen,
die im Streit um den Brexit-Kurs des Premiers gegen die eigene
Regierung gestimmt hatten. Darunter sind so prominente Mitglieder wie
der Alterspräsident und ehemalige Schatzkanzler Ken Clarke und der
Enkel des Kriegspremiers Winston Churchill, Nicholas Soames.

Der Premier steht wegen seines harschen Vorgehens zunehmend in der
Kritik. Am Donnerstag legte bereits sein Bruder, Jo Johnson, aus
Protest sein Amt als Staatssekretär und auch sein Abgeordnetenmandat
für die Tories nieder. «Ich war in den vergangenen Wochen zerrissen
zwischen Loyalität zur Familie und dem nationalen Interesse - es ist
eine unauflösbare Spannung», begründete Jo Johnson seine
Entscheidung.

Rudd galt einst als aussichtsreiche Kandidatin für das Amt der
Regierungschefin. Sie hatte im Kabinett von Theresa May bereits den
Posten der Arbeitsministerin inne. Auch das Innenministerium leitete
sie zeitweise. Die proeuropäische Politikern galt zusammen mit
anderen lange Zeit als Gegengewicht zu den Brexit-Hardlinern im
Kabinett. Doch die meisten ihrer Mitstreiter waren nach der Wahl
Johnsons zum Premierminister ausgeschieden. Trotzdem gelten einige
Kabinettsmitglieder als Wackelkandidaten, die Rudd womöglich bald
folgen könnten.

Die Gegner eines britischen EU-Austritts ohne Abkommen bereiten sich
indessen Medienberichten zufolge auf eine gerichtliche
Auseinandersetzung mit der Regierung vor. Das berichteten unter
anderen die TV-Sender BBC und Sky News am Samstag unter Berufung auf
Parlamentskreise.

Johnson hatte es mehrfach ausgeschlossen, bei der EU eine erneute
Verschiebung des Brexit-Datums zu beantragen. Bislang ist der 31.
Oktober vorgesehen. Lieber wolle er «tot im Graben liegen», sagte er.

Das am Freitag verabschiedete Gesetz gegen den ungeregelten
EU-Austritt sieht jedoch vor, dass die Regierung eine Verlängerung
der Brexit-Frist beantragen muss, wenn bis zum 19. Oktober kein
Abkommen ratifiziert ist. Hellhörig wurden Johnsons Gegner, als er am
Freitag Reportern sagte, das Gesetz sehe nur «theoretisch» eine
Brexit-Verschiebung vor.

Johnson hat versprochen, sein Land am 31. Oktober aus der EU zu
führen, «komme, was wolle». Er will am Montag im Unterhaus über ein
e
Neuwahl am 15. Oktober abstimmen lassen, um das Gesetz mit einer
Parlamentsmehrheit rechtzeitig noch einmal zu ändern. Doch die
Opposition hat bereits klar gemacht, dass sie das nicht zulassen
wird. Für eine vorgezogene Wahl ist die Zustimmung von zwei Dritteln
aller Abgeordneten notwendig.

Spekuliert wird nun, die Regierung könne mangels Alternativen
versuchen, das Gesetz einfach zu ignorieren oder ein Schlupfloch zu
finden, um es zu umgehen. Doch Experten warnten, Johnson könnte im
Extremfall im Gefängnis landen, sollte er sich über das Gesetz
stellen.

«Er ist genauso an das Rechtsstaatsprinzip gebunden wie jeder andere
in diesem Land», sagte der ehemalige Generalstaatsanwalt Dominic
Grieve der BBC am Samstag. «Wenn er sich nicht daran (an das Gesetz)
hält, kann er vor Gericht verklagt werden. Das Gericht würde
nötigenfalls eine Verfügung erlassen, die ihn dazu verpflichtet
(...), hält er sich nicht an die Verfügung, könnte er ins Gefängnis

geschickt werden.»

Bei Protesten für und gegen den EU-Austritt Großbritanniens kam es am
Samstag in London zu bedrohlichen Szenen. Wie die britische
Nachrichtenagentur PA berichtete, musste die Polizei Gruppen mit
jeweils mehrere Hundert Menschen am Parliament Square
auseinanderhalten. Scotland Yard teilte später mit, dass 16 Menschen
festgenommen wurden, die meisten wegen Gewaltdelikten.

Berichten zufolge gingen einige der gewaltsamen Übergriffe von
Mitgliedern der als rechtsextremistisch geltenden
Fußballfan-Vereinigung Football Lads Alliance (FLA) aus. Die FLA
hatte ihre Anhänger zur Pro-Brexit-Demo aufgerufen. Sie sollen laut
den Berichten Brexit-Gegner und Polizeibeamte attackiert haben.

Die ehemalige konservative Parlamentsabgeordnete und Brexit-Gegnerin
Anna Soubry sagte aus Angst vor Attacken der Fußballfans ihre
geplante Rede am Parliament Square ab. «Ich bin eine Parlamentarierin
und ich habe das Recht zu sprechen und ich sollte keine Angst haben,
aber es ist sehr, sehr, sehr verstörend und ich habe eigentlich sehr
große Angst», sagte Soubry laut PA. Vor dem Regierungssitz Downing
Street forderten Hunderte Demonstranten Johnsons Rücktritt.