Brexit-Chaos: Welche Möglichkeiten Boris Johnson noch hat Von Christoph Meyer und Silvia Kusidlo, dpa

10.09.2019 16:25

Das Gesetz brechen, zurücktreten oder provozieren: Viele Optionen hat
der britische Premierminister Boris Johnson nicht mehr, wenn er sein
Versprechen einhalten will, Großbritannien zum 31. Oktober aus der EU
zu führen. Schließt er am Ende doch noch einen Deal mit Brüssel?

London (dpa) - Nach der zweiten Ablehnung einer Neuwahl hat Boris
Johnson keine Chance mehr auf eine Parlamentsmehrheit für seinen
Brexit-Kurs vor dem geplanten EU-Austritt am 31. Oktober. Den Weg zu
einem ungeregelten Brexit hat das Parlament dem britischen
Premierminister per Gesetz versperrt. Trotzdem will Johnson «lieber
tot in einem Graben» liegen als eine Verlängerung für die
Brexit-Frist zu beantragen. Welche Optionen hat er noch?

- Brexit-Abkommen in letzter Sekunde

Johnson könnte versuchen, doch noch eine Einigung mit der EU zu
finden. In der Kürze der Zeit wären kaum größere Änderungen mög
lich.
Doch eine Variante lag bereits auf dem Tisch: Die in Großbritannien
verhasste Garantieklausel für eine offene Grenze zwischen dem
britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland (Backstop) könnte
auf Nordirland beschränkt werden.

Notfalls müssten dann an den Häfen zwischen Nordirland und dem Rest
des Vereinigten Königreichs Warenkontrollen durchgeführt werden.
Großbritannien hätte aber die Freiheit, ohne Rücksicht auf die EU
Handelsabkommen zu schließen, beispielsweise mit den USA. Nach den
aktuellen Plänen ginge das nicht. Johnsons Vorgängerin Theresa May
hatte diesen Vorschlag Brüssels im vergangenen Jahr noch empört
abgelehnt. «Kein britischer Premierminister könnte dem je zustimmen»,

hatte May gesagt. Der Vorschlag untergrabe den britischen Binnenmarkt
und bedrohe die verfassungsmäßige Integrität des Vereinigten
Königreichs.

May hatte neben der Sorge um den Zusammenhalt ihres Landes aber noch
einen weiteren wichtigen Grund: Ihre Regierung hing von der
Unterstützung der nordirischen Protestantenpartei DUP ab, die ihre
Minderheitsregierung stützte. Johnson ist nach dem Rauswurf der
Brexit-Rebellen selbst mit den DUP-Abgeordneten weit entfernt von
einer Mehrheit. Er könnte die DUP fallen lassen und darauf hoffen,
dass ihm Labour-Abgeordnete helfen, den Deal über die Ziellinie zu
bringen.

Johnson müsste mit dem Widerstand einiger hartgesottener
Brexit-Anhänger in der eigenen Partei rechnen. Manch ein Beobachter
sieht in dem harten Vorgehen Johnsons gegen proeuropäische Rebellen
jedoch eine Warnung an die Brexit-Hardliner. Wer sich weigert, für
einen Deal zu stimmen, wird aus der Fraktion geworfen und darf bei
einer baldigen Neuwahl nicht mehr für die Tories antreten, könnte die
Botschaft lauten. Doch eine Mehrheit für einen solchen Deal wäre
längst nicht sicher und Johnson müsste befürchten, dass die
Geschassten zur Brexit-Partei von Nigel Farage überlaufen oder
zumindest, dass Farage davon profitieren könnte.

- Johnson ignoriert das Gesetz gegen den No-Deal-Brexit

Immer wieder wurde spekuliert, ob der Premierminister das Gesetz
gegen den No-Deal-Brexit einfach ignorieren oder versuchen könnte,
ein Schlupfloch zu finden. Doch Gegner eines ungeregelten
EU-Austritts haben bereits angedroht, den Streit dann vor Gericht
auszutragen. Johnson könne im Zweifel im Gefängnis landen, warnen
sie. Seine Unterstützer schlugen vor, er könne sich in dem Fall zum
Märtyrer stilisieren.

«Er ist genauso an das Rechtsstaatsprinzip gebunden wie jeder andere
in diesem Land», sagte der ehemalige Generalstaatsanwalt Dominic
Grieve der BBC. «Wenn er sich nicht daran (an das Gesetz) hält, kann
er vor Gericht verklagt werden. Das Gericht würde nötigenfalls eine
Verfügung erlassen, die ihn dazu verpflichtet (...) Hält er sich
nicht an die Verfügung, könnte er ins Gefängnis geschickt werden.»


- Johnson tritt als Premierminister zurück

Um sein Versprechen nicht zu brechen, Großbritannien am 31. Oktober
aus der EU zu führen, könnte Johnson auch als Premierminister
zurücktreten. Fraglich wäre, wer dann von Königin Elizabeth II. mit
der Regierungsbildung beauftragt würde. Johnsons Konservative könnten
nicht mehr beanspruchen, eine Mehrheit im Unterhaus zu haben.
Trotzdem wären sie weiter stärkste Fraktion.

Sollte sich die Opposition jedoch mit vereinten Kräften auf
Oppositionschef Jeremy Corbyn oder einen anderen Kandidaten einigen,
könnte es einen Regierungswechsel geben. Johnson müsste darauf
setzen, dass es bald zur Neuwahl kommt. Theoretisch könnte der
Interimspremier aber auch erst einmal weiterregieren und
beispielsweise einen weicheren Brexit mit enger Anbindung an die EU
durchsetzen, bevor er eine Neuwahl in die Wege leitet.

Johnson könnte sich als Verfechter des im Brexit-Referendum zum
Ausdruck gekommenen Volkswillens inszenieren. Sollte er sich bei
einer Wahl aber nicht durchsetzen, würde er als britischer
Premierminister mit der kürzesten Amtszeit in die Geschichte
eingehen.

- Ablehnung durch die EU

Der britische Regierungschef könnte auch versuchen, eine Ablehnung
der Brexit-Verschiebung durch die EU zu provozieren. Die
No-Deal-Gegner haben in ihrem Gesetz gegen den ungeregelten Brexit
dafür bereits Vorkehrungen getroffen. Beispielsweise ist dort der
genaue Wortlaut des Briefs vorgegeben, den der Premier an
EU-Ratspräsident Donald Tusk schreiben soll. Die Dauer der
Verlängerung ist auf drei Monate festgelegt, doch sollte die EU einen
anderen Zeitraum vorschlagen, könnte die Regierung das nur mit
Zustimmung des Parlaments ablehnen.

Spekuliert wird nun, ob Johnson noch einen zweiten Brief beilegen
könnte, aus dem hervorgeht, dass er die Verlängerung eigentlich nicht
will. Er könnte Brüssel auch damit drohen, wichtige Entscheidungen zu
blockieren.

Als denkbar gilt auch, dass Johnson versuchen könnte, einen EU-Staat
zu einem Veto zu bewegen. Infrage käme beispielsweise Ungarn, dessen
Ministerpräsident Viktor Orban Johnson gewogen sein dürfte. Doch
bislang war es den 27 verbliebenen EU-Staaten gelungen, in Sachen
Brexit fast immer mit einer Stimme zu sprechen.