Gesetz gegen No-Deal-Brexit in Kraft - Bercow kündigt Rücktritt an Von Silvia Kusidlo, Christoph Meyer und Verena Schmitt-Roschmann, dpa

09.09.2019 19:02

Der Brexit hält Großbritannien weiter in Atem. Nach der Abstimmung
über eine Neuwahl wird das Parlament in eine mehrwöchige Zwangspause
gehen. Und Unterhausspräsident Bercow kündigt seinen Rücktritt an.

London/Brüssel (dpa) - Das Gesetz gegen einen ungeregelten Austritt
Großbritanniens aus der EU ist am Montag in Kraft getreten. Königin
Elizabeth II. habe das Gesetz gebilligt, teilte der Vorsitzende des
britischen Oberhauses mit. Es war vergangene Woche im Eiltempo durch
beide Parlamentskammern gepeitscht worden. Zuvor hatte Premier Boris
Johnson angekündigt, das Parlament in eine fünfwöchige Zwangspause zu

schicken, die noch am Montagabend beginnen sollte. John Bercow, der
Präsident des Unterhauses - in Großbritannien Sprecher genannt -
kündigte indes an, spätestens zum 31. Oktober von seinem Amt
zurückzutreten. Sollte davor bereits eine Neuwahl ausgerufen werden,
ende seine Amtszeit mit der Auflösung des Parlaments.

«Während meiner Zeit als Sprecher habe ich versucht, die relative
Autorität dieses Parlaments zu erhöhen, wofür ich mich absolut bei
niemandem, nirgendwo, zu keiner Zeit entschuldigen werde», sagte
Bercow in einer emotionalen Ansprache. Die meisten Abgeordneten
würdigten ihn mit lange anhaltendem Applaus, einige blieben aber
demonstrativ sitzen. Bercow hatte im Brexit-Machtkampf zwischen der
Regierung und dem Parlament immer wieder eine herausragende Rolle
gespielt. Erst vergangene Woche ermöglichte er der Opposition und
Rebellen aus der Regierungsfraktion, anders als üblich, ein
Gesetzgebungsverfahren gegen den Willen der Regierung einzuleiten.
Ihm wurde immer wieder vorgeworfen, einseitig zugunsten der
proeuropäischen Abgeordneten eingegriffen zu haben. Bercow bestritt
das.

Das inzwischen in Kraft getretene Gesetz gegen den No-Deal-Brexit
sieht vor, dass der Premierminister eine Verlängerung der am 31.
Oktober auslaufenden Brexit-Frist beantragen muss, wenn bis zum 19.
Oktober kein Austrittsabkommen ratifiziert ist. Johnson lehnt eine
Verlängerung jedoch kategorisch ab. Lieber wolle er «tot im Graben»
liegen. Spekuliert wird, dass die Regierung versuchen wird, ein
Schlupfloch zu finden.

Das Parlament wird erst am 14. Oktober wieder zusammentreten - also
nur etwas mehr als zwei Wochen vor dem Austritt Großbritanniens aus
der Europäischen Union. Johnson wollte am Montagabend noch vor Beginn
der Zwangspause das Unterhaus ein weiteres Mal über eine Neuwahl
abstimmen lassen. Doch es galt als extrem unwahrscheinlich, dass er
die dafür nötige Zweidrittelmehrheit aller Abgeordneten bekommt. Die
Oppositionsparteien hatten dem Vorstoß schon im Vorfeld eine Absage
erteilt. Bereits in der vergangenen Woche war Johnson mit einem
ersten Antrag auf eine Neuwahl im Unterhaus durchgefallen.

Bei einem Besuch in Irland sagte Johnson am Montag ausdrücklich, dass
er einen geregelten Brexit seines Landes zum 31. Oktober wolle. «Ich
will einen Deal erreichen», so Johnson bei dem Treffen mit seinem
irischen Amtskollegen Leo Varadkar in Dublin. Dies solle ohne die
Einrichtung einer festen Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und
dem britischen Nordirland möglich sein. Wie das umgesetzt werden
soll, verriet Johnson allerdings nicht.

Brüssel und Dublin fordern eine Garantie dafür, dass Kontrollposten
an der Grenze zu Nordirland nach dem Brexit vermieden werden. Denn
das könnte den alten Konflikt zwischen katholischen Befürwortern
einer Vereinigung Irlands und protestantischen Loyalisten wieder
schüren. Bis eine andere Lösung gefunden wird, sollen für Nordirland

weiter einige Regeln des Binnenmarkts gelten und ganz Großbritannien
in der Europäischen Zollunion bleiben.

Diese «Backstop» genannte Lösung lehnt Johnson jedoch strikt ab. Er
sieht in der Klausel ein «Instrument der Einkerkerung»
Großbritanniens im Orbit der EU. Varadkar betonte jedoch am Montag:
«Für uns gibt es keinen Deal ohne Backstop.»

Varadkar warnte, ein EU-Austritt Großbritanniens ohne Abkommen sei
alles andere als ein «klarer Bruch». Was auch immer passiere - beide
Seiten müssten schnell wieder an den Verhandlungstisch zurückkehren.
«Die ersten Punkte auf der Tagesordnung werden sein: Rechte von
Bürgern, ein finanzieller Ausgleich und die irische Grenze», so
Varadkar. Für alle diese Punkte seien im Austrittsabkommen, das
Johnsons Vorgängerin Theresa May mit der EU ausgehandelt hatte,
Lösungen gefunden worden.

Etwa 100 Menschen protestierten vor dem Parlamentsgebäude in Dublin
gegen Johnsons Brexit-Kurs. «Keine Zölle, keine Grenze, kein Brexit»,

sangen einige von ihnen. Sie glauben nicht, dass Johnson tatsächlich
einen geregelten Ausstieg aus der EU anstrebt. «Der lügt doch», sagte

eine Demonstrantin aus der Grafschaft Cork der britischen
Presseagentur PA.

Die Polizei in Nordirland teilte indes mit, ein am Samstag in einem
Grenzort gefundener Sprengsatz sei der katholisch-republikanischen
Splittergruppe «Neue IRA» zuzuordnen. Nach Angaben der Ermittler
sollte die funktionsfähige Mörsergranate wohl auf ein Polizeirevier
abgefeuert werden, der Granatwerfer habe aber vermutlich versagt.
Gefunden wurde sie auf einer Mauer nahe der Polizeidienststelle. Sie
konnte erfolgreich entschärft werden. Verletzt wurde niemand.
Ähnliche Vorfälle hatte es in den vergangenen Wochen und Monaten
mehrfach gegeben.

Aus dem Europaparlament kommt heftige Kritik am Brexit-Kurs Johnsons.
Er versuche, aus einem konstruierten Konflikt zwischen dem britischen
Parlament und den Menschen politisches Kapital zu schlagen, sagte die
Grünen-Abgeordnete Terry Reintke der Deutschen Presse-Agentur in
Brüssel. «Diese demagogische Hetze destabilisiert das gesamte
demokratische System Großbritanniens.» Reintke plädierte für einen

weiteren Aufschub des Brexits, wenn die Briten dies beantragten. Ein
EU-Austritt ohne Vertrag wäre ihrer Ansicht nach vor allem für Irland
ein zu hoher Preis.

Auch der CDU-Europaabgeordnete David McAllister äußerte sich höchst
besorgt. «Die politische Lage auf der Insel ist derzeit so angespannt
wie nie zuvor, der Machtkampf zwischen dem britischen Unterhaus und
dem Premierminister nimmt neue Dimensionen an», erklärte der Chef des
Auswärtigen Ausschusses der dpa.

EU-Abgeordnete wollen sich am Mittwoch auf den Entwurf einer
Brexit-Resolution verständigen und diese nächste Woche verabschieden.
Am Donnerstag informiert EU-Chefunterhändler Michel Barnier die
Fraktionsvorsitzenden des Parlaments über den Stand der Gespräche mit
London.