Herr über die Brexit-Abstimmungen: John Bercow kündigt Rücktritt an Von Silvia Kusidlo und Christoph Meyer, dpa

09.09.2019 18:09

«Mr Speaker» - so wird der Präsident des Unterhauses angesprochen.
Der klein gewachsene John Bercow übt sein Amt mit Wortwitz und
Überzeugung aus. Unumstritten ist der Politiker aber nicht - nun hat
er mitten im Brexit-Streit seinen Rückzug angekündigt.

London (dpa) - «Ordeeeer», «Ordeeeer!» - schallt es bei Sitzungen d
es
britischen Unterhauses durch den Saal. Selbst Kinder, die in den
Nachrichten die markanten Ordnungsrufe von John Bercow aufschnappen,
ahmen ihn nach. Der Parlamentspräsident hat sich in Großbritannien
und anderen Ländern zur Kultfigur gemausert - und spielt im
Brexit-Streit eine wichtige Rolle. Nun hat Bercow angekündigt, sein
Amt bis spätestens am 31. Oktober aufzugeben, dem Tag, an dem
Großbritannien die EU verlassen soll.

Kritiker werfen ihm vor, die Neutralität seines Amts zugunsten der
Brexit-Gegner zu verletzen und forderten immer wieder seinen
Rücktritt. Doch Bercow blieb stur. «Während meiner Zeit als Sprecher

habe ich versucht, die relative Autorität dieses Parlaments zu
erhöhen, wofür ich mich absolut bei niemandem, nirgendwo, zu keiner
Zeit entschuldigen werde», sagte Bercow am Montag im Parlament.

Was war nun der Grund für seine Rücktrittsankündigung? Er habe seiner

Familie bei der vergangenen Parlamentswahl versprochen, nicht noch
einmal anzutreten, sagte der dreifache Vater. Und sein Versprechen
halte er nun mal ein, so der sichtlich bewegte Bercow. Die Reaktion
im Unterhaus: nicht enden wollender Beifall bei seinen Anhängern,
während die Brexit-Hardliner mit verschränkten Armen sitzen blieben.

Bercow ist bereits der 157. «Speaker of the House of Commons».
Mehrere seiner Vorgänger überlebten den Posten nicht: Sie wurden
geköpft. Heute ist es eher der exzentrische Bercow, vor dem die
Abgeordneten zittern. Denn «Mr Speaker», so wird er im Parlament
angesprochen, ist quasi der Herr über die Debatten und Abstimmungen.

Auch die frühere Premierministerin Theresa May kam nicht an dem
kleingewachsenen Bercow vorbei. Eine dritte Abstimmung über ihren
bereits zwei Mal gescheiterten Brexit-Deal, ließ er erst nach einer
substanzielle Änderung der Vorlage zu. Der Clou: Er berief sich dabei
auf eine 415 Jahre alte Regel, die kaum noch jemand parat hatte. Die
Regierung musste sich schließlich beugen.

Bercow selbst - das ist kein Geheimnis - hätte Großbritannien lieber
weiter in der Europäischen Union gesehen. Kritik an seinem Verhalten
im Unterhaus weist er aber zurück. «Ich habe meine privaten
Überzeugungen, aber im Parlament bin ich unparteiisch», sagte er
einmal in einem Interview, das unter anderem in der «Welt» erschien.

Bercow ist ein Dickschädel, der die hohe Kunst der Rhetorik
beherrscht. «Ich rede einfach zu gern und im Zweifel zu viel», räumte

der aus einfachen Verhältnissen stammende Politiker in dem Interview
ein. «Meinen Sprachstil habe ich von meinem Vater geerbt, der recht
gestelzt sprach.»

Schon als Kind las Bercow Zeitung, kandidierte für das
Schülerparlament und protestierte gegen das Schulessen. Er habe keine
Probleme, vor einer Menge zu sprechen. Dagegen gehöre Tanzen zu
seinen Urängsten - und seine Furcht davor könne er «nur mit einer
beträchtlichen Menge Alkohol» überwinden.

Viel Beifall, aber auch Kritik bekam Bercow für die Ankündigung,
US-Präsident Donald Trump bei einem Staatsbesuch nicht im Parlament
zu empfangen. Indirekt warf er Trump Rassismus und Sexismus vor.

Doch es gibt auch immer wieder massive Vorwürfe von Ex-Mitarbeitern
und Kollegen gegen ihn. Sein Ex-Privatsekretär Angus Sinclair etwa
behauptete, Bercow habe ihn vor anderen Mitarbeitern angeschrien.
Mehrere Parlamentarierinnen soll er beleidigt haben.

Für Aufsehen sorgte auch sein Familienleben: Ehefrau Sally, die
Bercow um einen Kopf überragt und eine Anhängerin der oppositionellen
Labour-Partei ist, fiel mehrfach mit erotischen Fotos und frivolen
Äußerungen auf. Ihr Einzug ins Big-Brother-Haus löste bei ihrem Mann

keine Begeisterung aus - er reiste nach Indien.

In den vergangenen Jahren entfremdete sich Bercow, ursprünglich ein
Konservativer, von den regierenden Tories. Er sieht sich als
Verteidiger des Parlaments gegen eine Regierung, die zunehmend
autoritäre Züge trägt. Er nahm auch den Kampf gegen die britische
Boulevardpresse auf, die EU-freundliche Abgeordnete als Meuterer
anprangerte. Bercow rief den Abgeordneten im Unterhaus zu: «Bei der
Abgabe Ihrer Stimme ... sind Sie als Mitglied des Parlaments niemals
Meuterer, niemals Verräter, niemals Querulanten, niemals
Volksfeinde.»