Von der Leyen und der Machtkampf um die «europäische Lebensweise» Von Michel Winde, dpa

19.09.2019 05:30

Den «American Way of Life» kennt jeder. Aber gibt es auch eine
europäische Lebensweise? Über einen bizarren Namensstreit und einen
Machtkampf zwischen Ursula von der Leyen und dem EU-Parlament.

Straßburg (dpa) - Ursula von der Leyen hat eine klare Vorstellung,
was die «europäische Lebensweise» ausmacht. Immerhin will die
künftige Präsidentin der EU-Kommission einen ihrer Vizes beauftragen,
diesen «European Way of Life» zu schützen. Viele andere dürften ind
es
rätseln, was es damit auf sich hat. In Brüssel ist darüber sogar ein

hitziger Streit ausgebrochen. An diesem Donnerstag könnte es zum
Showdown mit Vertretern des Europaparlaments kommen. Für von der
Leyen könnte es, sechs Wochen vor ihrem Amtsantritt, der erste
Dämpfer werden.

Gut eine Woche ist es her, dass von der Leyen ihr Team für die
nächste EU-Kommission vorgestellt hat: Es ist eine fein austarierte
Mannschaft, ein Balanceakt in Sachen Herkunft, Geschlecht und
Parteibuch. Über all das wird seither allerdings kaum geredet.
Stattdessen geht es um den «European Way of Life».

In der von-der-Leyen-Kommission soll der Grieche Margaritis Schinas
Vizepräsident mit der Zuständigkeit «Protecting our European Way of
Life» werden - zu Deutsch: «Schützen, was Europa ausmacht». Schinas
,
der bis vor kurzem Chefsprecher des scheidenden Kommissionschefs
Jean-Claude Juncker war, soll die Arbeit mehrerer EU-Kommissare zu
völlig verschiedenen Themen koordinieren: Fachkräftemangel, Bildung,
Kultur, Sport, Sicherheit. Und Migration.

Europa schützen und Migration - diese Verknüpfung sorgt für Empörun
g.
Linke, Grüne, Liberale und Sozialdemokraten im EU-Parlament lehnen
den «European Way of Life»-Kommissar in seiner jetzigen Form ab. Sie
sehen eine sprachliche Nähe zu Rechtsextremen und beklagen, der Titel
klinge nach Abschottung. «Entweder ändert sich Schinas' Titel oder er
verliert die Zuständigkeit für Migration... ansonsten könnte dies die

Bestätigung der EU-Kommission in Gefahr bringen», kündigte der
Liberale Guy Verhofstadt an. Auch von Sozialdemokraten, Linken und
Grünen kommt Widerspruch.

Muss von der Leyen am Ende nachgeben? Das Europaparlament hat einen
entscheidenden Hebel. Alle angehenden Kommissare müssen sich in den
kommenden Wochen noch Anhörungen in den Fachausschüssen stellen. Die

Abgeordneten können anschließend empfehlen, den einen oder anderen
Nominierten auszutauschen. Und in einer endgültigen Abstimmung kann
das Plenum noch die gesamte Kommission durchfallen lassen. All das
ist also mehr als Wortklauberei. Es ist auch ein Machtkampf.

Seit Tagen schon ist von der Leyen im Rechtfertigungsmodus.
«Freiheit, Gleichheit, Demokratie und Wahrung der Menschenwürde.
Diese Werte und unsere Bindung an sie bilden das Fundament unserer
Gesellschaft», heißt es in einem Gastbeitrag für mehrere europäisch
e
Tageszeitungen. Für manche sei der Begriff «europäische Lebensweise
»
politisch zu aufgeladen, als dass er verwendet werden sollte. «Ich
bin da anderer Meinung. Ich bin überzeugt, dass wir uns unsere
Begriffe von Europas Gegnern nicht nehmen lassen dürfen. Die Werte in
den Europäischen Verträgen zu schützen ist Grundlage unserer
Identität.»

Immerhin aus ihrer eigenen christdemokratischen Parteienfamilie kommt
Rückendeckung. «Wir stehen zu diesem Titel und unterstützen von der
Leyen», sagte Fraktionschef Manfred Weber. Die Kritik? Kann er nicht
nachvollziehen. «Wir müssen uns nur klar werden, wovon wir sprechen.
Weil zu meiner Definition von «European Way of Life» gehört, dass wir

Migranten im Mittelmeer retten.»

Ja, was ist die europäische Lebensweise denn genau? Ist es die Sauna
in Finnland und die Lederhose in Bayern? Der Espresso in Italien und
der griechische Feta? In Vielfalt geeint, das Europamotto. Oder
abstrakter: Der Bezug auf Jahrtausende alte Kultur und Geschichte?
Ein Leben in relativer Sicherheit? Das Bekenntnis zu Werten wie
Demokratie und Gleichheit? Gibt es etwas, das Europäer eint und von
Menschen in Amerika, Afrika oder Asien unterscheidet?

Johannes Moser hält das für ziemlich abwegig. Moser ist Professor am
Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie
der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Mit dem Begriff der
europäischen Lebensweise kann er nichts anfangen. Es gebe in Europa
viele Nationen, und selbst innerhalb dieser Nationen gebe es etliche
Unterschiede. «Zwischen Preußen und Bayern klafft eine riesige
Kluft.»

Und jene Werte, die von der Leyen als europäischen Nenner anführt -
Freiheit, Gleichheit, Demokratie und Wahrung der Menschenwürde? «All

das verbindet sicher viele Staaten in Europa», sagt Moser. «Aber das

ist doch nicht der europäische Weg.» Diese Werte teilten auch viele
andere UN-Staaten. Wie Moser es auch dreht und wendet: «Ich finde
nichts, was lediglich auf Europa zutreffen würde.»

Noch wichtiger sei vielleicht, dass Europa auf vielfältige Weise
global verstrickt sei, sagt Moser. Kolonialismus, Einwanderung,
Auswanderung und die sich daraus ergebenden Einflüsse machten es noch
schwieriger, die europäische Lebensweise zu definieren.

Unabhängig davon, ob es die europäische Lebensweise nun gibt - das
Parlament könnte die Gelegenheit nutzen, von der Leyen auflaufen zu
lassen. Ein Rückzieher würde wohl als Niederlage gedeutet.