Brexit oder sozialistische Labour-Pläne? Johnson ist «kleineres Übel » Von Benedikt von Imhoff, dpa

11.11.2019 16:29

Noch einen Monat bis zur britischen Parlamentswahl: Natürlich
dominiert der Brexit die Debatten. Doch das allein interessiert die
Wirtschaft nicht. Und plötzlich erscheint Premier Johnson in ganz
anderem Licht.

London (dpa) - Das Brexit-Vorhaben des britischen Premierministers
Boris Johnson verdirbt Unternehmen die Laune. Dennoch bevorzugt die
deutsche Wirtschaft bei der Parlamentswahl im Vereinigten Königreich
am 12. Dezember den Konservativen Johnson. Grund sind die
wirtschaftspolitischen Pläne der größten Oppositionspartei Labour:
«Es ist ein Abwägen des «kleineren Übels»», sagte der Geschäf
tsführer
der deutsch-britischen Handelskammer (AHK) in London, Ulrich Hoppe,
der Deutschen Presse-Agentur.

Höhere Steuern für Wohlhabende und Unternehmen sowie
Verstaatlichungen: Labour will die britische Wirtschaft und
Finanzwelt umkrempeln. «Aufgrund der angekündigten Verstaatlichungen
und Umverteilungen fallen Anreize weg. Damit wird die
Wirtschaftskraft geschwächt», sagte Hoppe. «Das bedeutet, dass viele

Verbraucher mittelfristig sicherlich noch weniger Geld in der Tasche
haben, um Waren zu kaufen - und darunter leiden dann natürlich auch
die deutschen Unternehmen, die den Markt bedienen.»

Wegen des britischen Mehrheitswahlrechts ist es wahrscheinlich, dass
entweder Johnsons Konservative oder Labour mit Parteichef Jeremy
Corbyn nach der Abstimmung den Premierminister stellen. Die
Sozialdemokraten wollen unter anderem Steuern für Wohlhabende und
Unternehmen erhöhen und verschiedene Bereiche der Grundversorgung wie
Energie- und Wassernetze, Post und Bahn verstaatlichen. Außerdem
sollen Betriebe mit mehr als 250 Mitarbeitern verpflichtet werden,
zehn Prozent ihrer Anteile in einem Fonds zu parken, aus dem den
Beschäftigten Dividenden gezahlt werden.

Die britische Wirtschaft ist ohnehin seit langem stark unter Druck,
vor allem wegen des geplanten Brexits, aber auch wegen der
internationalen Handelskonflikte etwa zwischen der EU und den USA.
Erst kürzlich bat Premier Johnson in einem Telefonat mit US-Präsident
Donald Trump darum, die Drohung mit Strafzöllen auf Autoimporte aus
der EU, wovon auch Großbritannien betroffen wäre, nicht in die Tat
umzusetzen.

Am Montag teilte das britische Statistikamt zwar mit, die
Wirtschaftskraft habe im dritten Quartal 0,3 Prozent zugelegt. Damit
vermied die britische Wirtschaft eine technische Rezession mit einem
Rückgang in zwei Quartalen in Folge. Dennoch ist die Lage nicht
rosig. Das Wachstum sei so niedrig wie seit einem Jahrzehnt nicht
mehr, sagte ein Sprecher des Statistikamts ONS. Hoppe betonte: «Bei
einem Labour-Sieg wird sich nach Ansicht vieler Wirtschaftsforscher
das Wirtschaftswachstum vermutlich noch einmal abschwächen.»

Das Wahlprogramm hat Labour einen Monat vor der Abstimmung noch nicht
veröffentlicht. «Eine Wirtschaft für alle», verspricht die Partei
jedoch. Es gehe darum, eine fairere und wohlhabendere Gesellschaft
«für viele, nicht für einige» zu schaffen. Labour-Finanzexperte Joh
n
McDonnell betonte jüngst, die Partei wolle den Wohlstand
«unumkehrbar» auf die Seite der Arbeiter verschieben. Die
konservative Regierung zürnte. Premierminister Johnson verglich die
Pläne mit Methoden von Sowjetdiktator Josef Stalin und sprach von
einer wirtschaftlichen «Horrorshow».

AHK-Geschäftsführer Hoppe betonte: «Die Wirtschaft steht den Plänen

einer Regierung Corbyn kritisch gegenüber.» So sei etwa unklar, wie
sich unter einer Labour-Regierung das Wirtschaftsumfeld gestalten
werde. Hoppe verwies auf Ankündigungen wie eine Viertagewoche. «Ist
es dann noch wettbewerbsfähig, hier zu produzieren? Das werden sich
deutsche Unternehmen dann überlegen.»

Für die deutsche Wirtschaft bleibt die Lage auch nach der Wahl
schwierig, egal, wer gewinnt. Falls Johnson eine Mehrheit im
Parlament holt, wird der Brexit wohl spätestens zum 31. Januar
Wirklichkeit. Labour wiederum will innerhalb eines halben Jahres
einen neuen Vertrag mit der EU aushandeln, der eine engere Anbindung
an Zollunion und Binnenmarkt vorsieht, und diesen den Briten zur
Abstimmung vorlegen. Alternativ wäre der Verbleib in der EU.

Hoppe kritisierte Johnsons Pläne. Seit dem Referendum 2016 sei
Großbritannien unattraktiver geworden, auch wegen des niedrigen
Pfundkurses. «Es sind weniger Firmen, die sich nach
Investitionsmöglichkeiten hierzulande erkunden», sagte Hoppe. Viele
Unternehmen warteten ab, wie sich der Brexit nun konkret auswirken
und welche Regularien es künftig geben werde. «Keiner weiß es.» Die

Wirtschaft hoffe auf einen unternehmerfreundlichen Brexit, mit
relativ enger Anbindung an die Zollunion und den Binnenmarkt.

Zumal die Gestaltung eines Freihandelsabkommens zwischen der EU und
dem Vereinigten Königreich «in den Sternen» stehe. Ankündigungen vo
n
Premier Johnson, nach dem Brexit schnell ein Handelsabkommen mit der
EU auszuhandeln, nannte Hoppe unrealistisch. «Man kann einfach die
Zölle abschaffen, und das war's. Aber es geht auch um Regularien, um
Marktzugang. Und das ist komplizierter», betonte er. Hoppe sagte, es
werde schließlich teurer werden für deutsche Unternehmen, im
Vereinigten Königreich zu produzieren. «Diese Mehrkosten werden -
wenn möglich - höchstwahrscheinlich auf die Verbraucher abgewälzt.»


2018 betrug das Handelsvolumen zwischen Deutschland und dem
Vereinigten Königreich 119 Milliarden Euro. Nach Angaben der AHK
hängen etwa 750 000 Arbeitsplätze in Deutschland vom bilateralen
Handel ab, deutsche Unternehmen beschäftigen in Großbritannien mehr
als 400 000 Mitarbeiter.