Schicksalswahl der Briten: Johnsons Brexit oder zweites Referendum? Von Silvia Kusidlo und Christoph Meyer, dpa

05.12.2019 09:30

Gewinnt Boris Johnson bei der Wahl am 12. Dezember wie erwartet eine
Mehrheit, steht den Briten ein kompromissloser Bruch mit der EU
bevor. Schafft er es nicht, gibt es möglicherweise zwei weitere
Volksabstimmungen: zum Brexit und zu Schottlands Unabhängigkeit.

London/Hucknall (dpa) - Das britische Parlament gilt vielen seit dem
Gezerre um den EU-Austritt als Ort heillosen Zanks. Am kommenden
Donnerstag (12. Dezember) wählen die Briten nun neue Abgeordnete. Es
gibt dabei einen klaren Favoriten: Premierminister Boris Johnson
liegt in den Umfragen mit seinen Konservativen deutlich vorne. Mit
einer Mehrheit will er seinen Brexit-Deal durchpeitschen und das Land
zum 31. Januar aus der Europäischen Union führen. Labour-Chef Jeremy
Corbyn dagegen verspricht ein zweites Brexit-Referendum.

Doch Vorsicht ist angebracht. Wer meint, das Rennen sei bereits
gelaufen, könnte sich täuschen. «Falls irgendjemand zu Ihnen kommen
sollte und sagen, er wisse, was passieren wird, ziehen Sie eine
Augenbraue hoch, lächeln Sie freundlich und wenden Sie sich ab»,
sagte BBC-Moderator Andrew Marr dazu kürzlich.

Die beiden Spitzenkandidaten sind denkbar unpopulär. Weniger als die
Hälfte der Briten hält Johnson für einen guten Premierminister,
Corbyn wird der Job von gerade mal einem Viertel zugetraut. Auf den
Punkt brachte diese Stimmung kürzlich die 86 Jahre alte Molly Bennet
aus der Nähe von Southampton. «Ich weiß, für wen ich nicht stimmen

werde», sagte die alte Dame dem Sender Sky News. «Den roten Mann.»
Gemeint war der Chef der Sozialdemokraten. Doch auch für Johnson
hatte sie kein Lob übrig. «Ich wähle normalerweise konservativ, aber

ich kann den Kasper nicht ertragen», klagte sie.

Das britische Wahlrecht macht Voraussagen sehr schwer. Selbst ein
deutlicher Vorsprung in den Umfragen bedeute nicht unbedingt eine
große Mehrheit im Unterhaus, warnte der renommierte Wahlforscher John
Curtice von der Universität Strathclyde in Glasgow.

Die Frage ist, ob es zu einem Johnson-Sieg kommt oder wieder zum
«hung parliament» - einer Sitzverteilung, in der es keine klare
Mehrheit für eine der beiden großen Parteien gibt. Das war bereits
nach der Wahl 2017 der Fall - und führte zu einer Hängepartie um den
Brexit. Johnsons Vorgängerin Theresa May konnte nur mit Hilfe der
nordirischen DUP weiterregieren.

Manch einer hielt das für eine realistische Abbildung der Stimmung im
Land, denn der Zank um den EU-Austritt beschränkt sich nicht auf das
Parlament. Umfragen zeigen, dass die Briten auch dreieinhalb Jahre
nach dem Brexit-Referendum zu ungefähr gleichen Teilen in
Austrittsbefürworter und -gegner gespalten sind. Könnte es sein, dass
es wieder ein Patt gibt im Unterhaus?

Johnsons Tories verdanken ihr Umfragehoch vor allem der Tatsache,
dass sie die Brexit-Partei von Nigel Farage erfolgreich an die Wand
gespielt haben. Die überwiegende Mehrheit der Austrittsbefürworter
will den Umfragen zufolge die Konservativen wählen. Das bedeutet aber
auch, es gibt kaum mehr etwas hinzuzugewinnen für die Tories. Die
«Brexit-Orange» sei ausgequetscht, so Curtice.

Labour dagegen konkurriert mit den Liberaldemokraten um die Stimmen
der Brexit-Gegner und hier gibt es noch Spielraum: In den vergangenen
Wochen war in den Umfragen eine Wählerwanderung von den Liberalen zu
Labour zu beobachten. Es zeichnet sich immer mehr ab, dass sich die
junge Liberalen-Chefin Jo Swinson mit ihrer Ankündigung, den Brexit
einfach abzusagen, verzockt hat. Sollte sich dieser Trend fortsetzen,
wäre die Johnson-Mehrheit Beobachtern zufolge in Gefahr.

Doch ein landesweiter Trend spiegelt nicht unbedingt wider, was am
Ende des Wahltags als Ergebnis zu erwarten ist. Großbritannien hat
ein reines Mehrheitswahlrecht. Nur der Kandidat, der in einem der 650
Wahlkreise die meisten Stimmen auf sich vereint, erhält einen Sitz im
Parlament. Der Gewinner räumt also alles ab, egal wie knapp sein Sieg
war. Entscheidend sind die Sitze in einer Reihe umkämpfter
Wahlkreise, die sogenannten marginal seats.

So ein Wahlkreis ist Ashfield in Mittelengland nahe Nottingham.
Eigentlich war der Bezirk fest in Labour-Hand. Doch bei der
Parlamentswahl 2017 hatten sich die Sozialdemokraten hier nur mit
einer hauchdünnen Mehrheit von 411 Stimmen gegen die Konservativen
behauptet. Wer wird dieses Mal in Ashfield gewinnen, wo rund 70
Prozent für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt haben?

Hört man sich dort um, fällt vor allem auf, wie viele sich noch nicht
entschieden haben. Die Menschen sind misstrauisch, nur wenige wollen
mit Journalisten sprechen, geschweige denn namentlich zitiert oder
fotografiert werden. «Ich werde wählen gehen, aber ich weiß nicht
wen», sagte eine Verkäuferin in einem Blumengeschäft im Städtchen
Hucknall. Das Drama habe schon beim Brexit-Referendum 2016 angefangen
- man sei nicht über die Folgen des EU-Austritts aufgeklärt worden.
Gleichwohl: «Wahrscheinlich würde ich wieder für den Brexit stimmen.
»

«Die Parteien hier lügen doch alle», schimpfte ein Händler auf dem

Markt der Stadt. Es sage einem doch der «gesunde Menschenverstand»,
dass die Wahlversprechen nicht finanzierbar seien. So kündigte etwa
Corbyn den Neubau von 150 000 Wohnungen und kostenloses Internet für
alle an, Johnson will mit großen Investitionen in den maroden
staatlichen Gesundheitsdienst NHS und in die Polizei Wähler ködern.

Früher war Hucknall ein prosperierendes Zentrum der
Textilverarbeitung und des Kohle-Bergbaus. Doch die goldenen Zeiten
sind längst vorbei. Der Ort mit etwa 30 000 Einwohnern hat sich zur
schmucklosen Pendlerstadt entwickelt. Wohlstand sieht anders aus.

Die große Zustimmung zum EU-Austritt wurde vor allem als Protest
gegen das Establishment verstanden. Sollten die Menschen wieder vor
allem ihrem Ärger Luft machen wollen an den Wahlurnen, wird das
Ergebnis noch schwerer vorauszusagen: Johnson inszeniert sich zwar
als Vollstrecker des Volkswillens, doch Corbyn gilt mit seinen Plänen
zur Verstaatlichung von Post, Eisenbahn- und Energienetzen als der
eigentliche Revoluzzer.

In einem «hung parliament» könnte Corbyn theoretisch eine
Minderheitsregierung formen und sein Versprechen eines zweiten
Brexit-Referendums einlösen. Die Schottische Nationalpartei SNP wäre

bereit, ihn zu unterstützen, wie SNP-Chefin Nicola Sturgeon bereits
deutlich machte. Der Preis, daran ließ sie keinen Zweifel, wäre eine
baldige Volksabstimmung über die Unabhängigkeit des mehrheitlich
EU-freundlichen Schottlands vom Vereinigten Königreich.