Verfassungsexperten: Polnische Justizreform sollte gestoppt werden

16.01.2020 17:41

Die Venedig-Kommission befürchtet aufgrund der jüngsten Pläne der
polnischen Regierung eine «unmögliche Situation» für Richter. Polen
s
Justizminister nennt das Papier eine «Parodie». Doch auch das
Europaparlament macht Druck auf Warschau.

Straßburg/Warschau (dpa) - Das jüngste Gesetzesvorhaben der
nationalkonservativen Regierung in Polen untergräbt nach Ansicht von
Verfassungsexperten weiter die Unabhängigkeit polnischer Richter. Das
geplante Disziplinierung-Gesetz beschneide unter anderem die
Meinungs- und Vereinigungsfreiheit von Richtern, teilte die
Venedig-Kommission des Europarates am Donnerstag in einer dringenden
Stellungnahme mit. Die Expertengruppe der Staatengemeinschaft berät
Länder zum Thema Verfassungsrecht. Sie war vom polnischen Senat, in
dem die Opposition die Mehrheit hat, eingeschaltet worden. Polens
Justizminister Zbigniew Ziobro wies die Kritik zurück und nannte die
Erklärung der Kommission eine «Parodie».

Das Vorhaben der Regierungspartei PiS sieht unter anderem vor, dass
Richter künftig mit Geldstrafen, Herabstufung oder Entlassung rechnen
müssen, wenn sie Legalität oder Entscheidungskompetenz eines anderen
Richters, eines Gerichts oder einer Kammer infrage stellen. Auch die
zuständige EU-Kommissarin Vera Jourova hatte Polen jüngst dazu
aufgefordert, das Projekt auf Eis zu legen. Die Regierung hielt
jedoch daran fest.

Die Venedig-Kommission führte nun aus, das Gesetzesvorhaben bringe
Richter in eine «unmögliche Situation». So drohten ihnen
Disziplinarverfahren für Entscheidungen, die auf Grundlage der
Europäischen Menschenrechtskonvention oder EU-Rechts erforderlich
seien.

Kritisch sehen die Verfassungsexperten zudem, dass die geplante
Reform die Teilhabe von Richtern an der Rechtspflege reduziere und
der Einfluss des Justizministers wachse. Das Parlament in Warschau
solle das Gesetz nicht verabschieden, empfahlen die
Verfassungsexperten. Derzeit liegt das Gesetzesprojekt im Senat, der
zweiten Kammer des Parlaments. Hier hat die Opposition die Mehrheit.
Der Senat kann nur Änderungsvorschläge machen. Das letzte Wort hat
der Sejm, die erste Kammer, wo die PiS die absolute Mehrheit hat.

Polens Justizminister Ziobro sagte, das Papier der Venedig-Kommission
spiegele die neokoloniale Haltung mancher EU-Mitgliedsstaaten
gegenüber Polen wieder. Er warf den Autoren vor, Länder in zwei
Kategorien einzuteilen: die alten und die neuen Demokratien, von
denen die neuen weniger Rechte hätten. «Wir lassen nicht zu, so
behandelt zu werden.»

SPD-Europapolitikerin Katarina Barley nannte den Bericht vom
Donnerstag «eine weitere rechtsstaatliche Bankrotterklärung an die
PiS-Regierung». Einmal mehr sei es eine europäische Institution, die
die Aushöhlung des Rechtsstaats in Polen anprangere.

Auch das Europaparlament erhöhte am Donnerstag den Druck auf Polen
sowie auf Ungarn. Gegen beide Länder laufen derzeit Verfahren nach
Artikel 7 des EU-Vertrags wegen mutmaßlicher Verstöße gegen
EU-Grundwerte. Damit können einem Land in letzter Konsequenz die
Stimmrechte im Kreis der EU-Staaten entzogen werden. Beide Verfahren
stocken allerdings seit längerem.

Die EU-Regierungen müssten sich klar zu den Verfahren positionieren,
forderte das Parlament in einer mit großer Mehrheit angenommenen
Resolution. Man sehe es mit Bedauern, dass die bisherigen Anhörungen
nicht zu nennenswerten Fortschritten geführt hätten.

Die EU-Kommission sowie internationale Gremien hätten darauf
hingewiesen, dass sich die Lage in beiden Staaten seit Beginn des
Verfahrens sogar noch verschlechtert habe, erklärte das
Europaparlament. Kroatien, das derzeit den Vorsitz der EU-Staaten
innehat, müsse dafür sorgen, dass die Anhörungen regelmäßig, obje
ktiv
und sachlich seien.

«Der Rat muss Ungarn und Polen klare Empfehlungen geben und die
nächsten Termine für das Verfahren nach Artikel 7 ansetzen», sagte
die Berichterstatterin des Europäischen Parlaments für die
Rechtsstaatlichkeit in Ungarn, Gwendoline Delbos-Corfield (Grüne).
Die EU-Kommission und das Parlament hätten gehandelt - nun müssten
die EU-Regierungen reagieren.