Handel, Wandel, Vietnam: EU-Interessen stoßen auf Menschenrechte Von Chris Humphrey und Roland Siegloff, dpa

11.02.2020 12:01

Die EU hat ein weitreichendes Freihandelsabkommen mit Vietnam
vereinbart. Es würde europäische Exporte in das aufstrebende
Entwicklungsland erleichtern. Doch Menschenrechtler mahnen.

Straßburg/Hanoi (dpa) - Die Fahrt führt durch ausgedehnte Plantagen
mit Kautschuk- und Cashewbäumen. Dann kommt die Gruppe an Baustellen
vorbei, auf denen Gefangene unter sengender Sonne schuften. Dies ist
das Gefängnis von Thu Duc etwa drei Fahrtstunden östlich von
Ho-Chi-Minh-Stadt, Vietnam. In der Haftanstalt, die Generalleutnant
Ho Thanh Dinh als Direktor des vietnamesischen Gefängniswesens jüngst
ausgewählten Reportern vorführte, sitzen 6000 Gefangene ein - und
verrichten in gestreifter Häftlingskleidung zermürbende Arbeiten.

Werden die Cashewkerne, wird das Gummi von den Plantagen in Thu Duc
demnächst zu besonders günstigen Bedingungen nach Europa geliefert?
Die Europäische Union hat mit Vietnam ein Freihandelsabkommen
vereinbart - das Europaparlament debattierte am Dienstag in Straßburg
kontrovers darüber. An diesem Mittwoch findet die Abstimmung statt.

Menschenrechtler erfüllt das mit Sorge. Die Organisation Human Rights
Watch (HRW) forderte die Abgeordneten auf, ihr Votum zu verschieben,
bis Vietnams Regierung in «konkrete und überprüfbare Maßstäbe bei
m
Schutz von Arbeitnehmerrechten und Menschenrechte» einwillige. 27
weitere Organisationen sehen das genauso.

Die EU-Kommission in Brüssel, die das Abkommen mit Hanoi ausgehandelt
hat, kennt diese Einwände. Sie hält ihnen entgegen, Vietnam habe in
den vergangenen zweieinhalb Jahren große Fortschritte bei den
Arbeitnehmerrechten gemacht. Das neue Abkommen biete eine gute Bühne
für weitere Diskussionen - das glaubten auch Aktivisten in Vietnam.

Vor allem setzen die Befürworter des Freihandelsabkommens aber auf
wirtschaftliche Argumente. Mit dem Abkommen sollen die Zölle auf 65
Prozent aller EU-Ausfuhren nach Vietnam umgehend entfallen - bisher
erhebt das Land laut Kommission etwa auf Flugzeuge 25 Prozent Zoll.
Der Rest würde mit wenigen Ausnahmen binnen zehn Jahren abgeschafft -
etwa für Rindfleisch, Wein und Autoteile. Umgekehrt fallen nach dem
Inkrafttreten die EU-Importzölle auf 71 Prozent aller vietnamesischen
Waren weg, nach sieben Jahren wären es 99 Prozent.

Es sei «das umfassendste und ambitionierteste Abkommen dieser Art,
das jemals zwischen der EU und einem Entwicklungsland geschlossen
wurde», erklärte der Ausschuss für internationalen Handel des
Europaparlaments. Seine Mitglieder stimmten dem Vertragswerk im
Januar mit deutlicher Mehrheit zu. Die Befürworter glauben an das
bekannte Prinzip «Wandel durch Handel».

Wandel wäre aus Sicht von Amnesty International (AI) in der
Sozialistischen Republik Vietnam dringend nötig. In den Gefängnissen
des Landes sind nach AI-Angaben mindestens 128 politische Häftlinge
unter «entsetzlichen» und «schäbigen» Bedingungen untergebracht.
Sie
würden gefoltert, misshandelt und von ihren Mitgefangenen isoliert,
hieß es in einem Bericht vom Mai 2019. Außerdem hätten sie keinen
Zugang zu ärztlicher Versorgung, sauberem Wasser und frischer Luft.

Selbst im Thu-Duc-Gefängnis, das die Regierung ausländischen
Reportern zu zeigen bereit war, starben im vergangenen Jahr neun
Häftlinge - vier von ihnen an Aids, einer behandelbaren Krankheit.
Wie viele Tote es in den vergangenen zehn Jahren gab, ist unbekannt -
obwohl im Gefängnis dafür eigens ein Gremium eingerichtet wurde.

150 der 6000 Gefangenen in Thu Duc stammen aus dem Ausland. «Sie
behandeln uns besser als die Vietnamesen», sagt der 52-jährige Hilton
Gomez aus Malaysia. Er müsse sich die Zelle nur mit 12 weiteren
Insassen teilen - ein Vietnamese stattdessen mit bis zu 40.

Die Häftlinge klagen über fehlenden Kontakt zu ihren Verwandten. Er
dürfe keine Telefonate ins Ausland führen, sagt John Nguyen, dessen
Familie in den USA lebt. Nur alle sechs Monate, wenn seine Verwandten
nach Vietnam reisten, könne er mit ihnen sprechen. Ein Häftling aus
Nigeria sagt gar, die Aufseher verweigerten ihm jeglichen Kontakt zu
seiner Familie: «Wir flehen sie an.»

Wenn Häftlinge nicht regelmäßig mit Angehörigen und Anwälten rede
n
dürften, verletze dies klar die Menschenrechte, sagt Phil Robertson,
Vize-Leiter der Asien-Abteilung von HRW. «Die Menschenrechtslage in
Vietnam ist besorgniserregend», erklärt auch die Europaabgeordnete
Anna Cavazzini, handelspolitische Sprecherin der Grünen/EFA-Fraktion
klagt: «Die vietnamesische Regierung hält ihre Versprechungen nicht
ein und geht immer brutaler gegen Andersdenkende und organisierte
Arbeiterinnen und Arbeiter vor.»

In der Debatte des Europaparlaments kam Kritik an dem Abkommen von
den linken und rechten Fraktionen. Vietnam sei ein repressiver Staat,
dessen kommunistische Regierung keine freien Gewerkschaften zulasse,
sagte Danilo Lancioni von der italienischen Lega, der auch die
vietnamesische Kohleverstromung hervorhob. Der Franzose Emmanuel
Maurel von der Linken-Fraktion sprach von einem Klimakiller-Abkommen.
Die belgische Grüne Saskia Bricmont sagte, Vietnam brauche eine
Strafrechtsreform - doch die komme nicht.

Konservative, Christdemokraten und Sozialdemokraten lobten hingegen
Fortschritte, die Vietnam bereits gemacht habe. Viele Handys, Tablets
und Kleidungsstücke kämen schon jetzt aus dem Land. «Wir wollen, dass

hier Regeln gesetzt werden», sagte der SPD-Abgeordnete Bernd Lange.
EU-Handelskommissar Phil Hogan erklärte, das Abkommen verbessere
Europas Position in Asien. Vietnam habe unter anderem sechs von acht
Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO
unterzeichnet: «Diese Entwicklungen sind bemerkenswert.»

Doch was würde aus dem Freihandelsabkommen, wenn sich die
Menschenrechtslage verschlechtere? Als «letzte Möglichkeit» enthalte

der Vertrag eine Klausel zu Aussetzung des Abkommens, sagt ein
EU-Beamter in Brüssel: «Dieser Stock ist vorhanden.»