Wirtschaftswachstum im Schritttempo - Coronavirus große Unbekannte Von Verena Schmitt-Roschmann, dpa

13.02.2020 15:01

Der Ausblick auf die Wirtschaftsentwicklung in Europa hat sich seit
vergangenem Herbst kaum verändert. Das sei ja erstmal nicht schlecht,
meint der EU-Wirtschaftskommissar. Aber wie lange diese Prognose
hält, ist unsicher.

Brüssel (dpa) - Paolo Gentiloni entschied sich für eine positive
Sicht der Dinge. Die europäische Wirtschaft wächst und erlebt somit
weiter den längsten Aufschwung seit Einführung des Euro 1999 - das
betonte der EU-Wirtschaftskommissar am Donnerstag bei der Vorstellung
der neuen Konjunkturprognose besonders. Nur ist es ein Wachstum im
Schritttempo, auch in Deutschland. Und neue Risiken könnten die
Rechnung gründlich verhageln, allen voran: das Coronavirus.

Es sei zu früh, die Gefahren der in China ausgebrochenen Epidemie für
die Wirtschaft genau einzuschätzen, sagte Gentiloni. Man arbeite mit
der Annahme, dass noch im ersten Quartal der Höhepunkt der
Krankheitswelle erreicht und die Weltwirtschaft nur wenig
beeinträchtigt werde. «Je länger sie dauert, desto größer die
Wahrscheinlichkeit von Folgeeffekten auf die wirtschaftliche Stimmung
und die globalen Finanzierungsbedingungen», weiß auch die Kommission.

Vorerst bleibt die Brüsseler Behörde aber weitgehend bei ihrer
Konjunkturprognose vom November. Für die Eurozone schätzt sie das
Wirtschaftswachstum 2020 und 2021 auf jeweils 1,2 Prozent, für die
gesamte EU auf 1,4 Prozent. Der Wert für die Eurozone ist seit dem
Herbst unverändert, der für die EU wurde von 1,5 Prozent minimal
zurückgenommen.

Deutschland liegt in der neuen Prognose mit 1,1 Prozent Wachstum in
beiden Jahren unter dem Schnitt. Frankreich sieht die Kommission bei
einem Plus von 1,1 im Jahr 2020 und 1,2 Prozent 2021. Sorgenkind
bleibt Italien mit 0,3 Prozent und 0,6 Prozent Wachstum.

Die Inflationsrate in der Eurozone setzt die Kommission für 2020 mit
1,3 Prozent an und für 2021 mit 1,4 Prozent, in beiden Jahren je 0,1
Prozentpunkte höher als im Herbst. Für die EU insgesamt erwartet sie
in diesem Jahr eine Rate von 1,5 Prozent, ebenfalls 0,1 Punkte mehr.
Nächstes Jahr wird unverändert 1,6 Prozent Inflation in der EU
angenommen.

«Die verschiedenen wirtschaftlichen Entwicklungen der vergangenen
Monate halten sich weitgehend die Waage», analysierte Gentiloni,
zeitweise italienischer Regierungschef und seit 1. Dezember in der
Kommission. Unsicherheitsfaktoren sieht er nicht nur im Coronavirus,
sondern auch im Zickzack der US-Handelspolitik und in den ungeklärten
Beziehungen der EU zu Großbritannien nach Jahresende. In Südamerika
gebe es soziale Unruhen und im Nahen Osten Spannungen.

Gleichwohl habe sich der Welthandel leicht stabilisiert und der
Handelsstreit zwischen den USA und China etwas entspannt. Die
europäische Wirtschaft zeige sich recht widerstandfähig gegenüber dem

globalen Umfeld und das Wachstum werde weitgehend von der heimischen
Nachfrage getragen. Die Schaffung neuer Jobs und robustes
Lohnwachstum sowie «ein unterstützender Policy-Mix» dürften die
europäische Wirtschaft auf einem Wachstumspfad halten.

Hoffnung setzt Gentiloni wohl insbesondere auf eine Änderung hin zu
einer «expansiveren und wachstumsfreundlicheren Fiskalpolitik». Er
hatte jüngst eine Überprüfung der Regeln für den Stabilitäts- und

Wachstumspakt auf den Weg gebracht und dafür geworben, vor allem bei
Klimaschutzinvestitionen die Defizit- und Schuldenregeln großzügiger
auszulegen.

Die Gelegenheit der Konjunkturprognose nutzte der italienische
Kommissar schon einmal für einen neuerlichen Appell an Deutschland,
angesichts seiner Haushaltsüberschüsse mehr Geld auszugeben. «Die
Kommission bittet Länder mit Spielraum im Haushalt immer, diesen
Spielraum für Investitionen zu nutzen», sagte der Kommissar. «Ich
kann das jetzt nur wiederholen.»