EU-Staaten setzen Schuldenregeln in Corona-Krise aus

23.03.2020 20:59

Höchstens 3,0 Prozent Haushaltsdefizit und 60 Prozent
Staatsverschuldung: Die Corona-Krise wirft auch die Regeln des
europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts über den Haufen. Und
schon werden weitere Kriseninstrumente angedacht.

Brüssel (dpa) - Für die beispiellosen Rettungspakete der EU-Staaten
gegen die Folgen der Corona-Krise werden erstmals die europäischen
Schulden- und Defizitregeln vorübergehend ausgesetzt. Dem stimmten
die EU-Wirtschafts- und Finanzminister am Montag in einer
Schaltkonferenz zu. Sie billigten den Vorschlag der EU-Kommission,
die sogenannte Allgemeine Ausweichklausel des Stabilitäts- und
Wachstumspakts zu ziehen.

«Die Nutzung der Klausel wird die nötige Flexibilität erlauben, alle

nötigen Maßnahmen zur Unterstützung unserer Gesundheits- und
Zivischutzsysteme und zum Schutz unserer Volkswirtschaften zu
ergreifen», hieß es in einer in Brüssel veröffentlichten Erklärun
g.
Möglich seien auch weitere koordinierte Konjunkturmaßnahmen, sollten
sie nötig werden. Darin zeige sich die Entschlossenheit, die
gegenwärtigen Herausforderungen anzupacken, Vertrauen
wiederherzustellen und eine schnelle Erholung zu erlauben.

In Erwartung eines «schwerwiegenden Konjunkturabschwungs» wegen der
Coronavirus-Pandemie hatte die Kommission die Aktivierung der Klausel
am Freitag vorgeschlagen. So sollen Mitgliedsstaaten alle «für eine
angemessene Bewältigung der Krise erforderlichen Maßnahmen» ergreifen

können, ohne gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt zu verstoßen,
wie die Behörde dazu erklärte.

Der Pakt von 1997 legt fest, dass das Haushaltsdefizit höchstens 3,0
Prozent und der Schuldenstand höchstens 60 Prozent der jeweiligen
Wirtschaftskraft betragen dürfen. Die «allgemeine Ausweichklausel»
wurde 2011 nach der Wirtschafts- und Finanzkrise eingefügt, um in
akuten Krisen mehr Spielräume zu erlauben. Sie wurde noch nie
angewendet.

Aus Sicht der EU-Kommission könnte der Konjunktureinbruch 2020
vergleichbar mit dem Abschwung im Jahr der Wirtschaftskrise 2009
werden. Damals war die Wirtschaft in der EU um 4,3 Prozent
geschrumpft und in der Eurozone um 4,5 Prozent. Das Münchner
Ifo-Institut erwartet derzeit für Deutschland wegen Corona einen
Wachtumsverlust von 7,2 bis 20,6 Prozentpunkten.

EU-Kommissionsvize Valdis Dombrovskis machte deutlich, dass die
Aussetzung der Schuldenregeln noch nicht das letzte Wort im Kampf
gegen die Krise ist. Es gehe noch um «weitere Schritte, die wir
unternehmen können, um Unternehmen und Arbeitnehmer in Europa zu
dieser kritischen Zeit unterstützen zu können». Welche Maßnahmen no
ch
hinzu kommen könnten, sagte Dombrovskis nicht.

Im Gespräch waren zuletzt Kreditlinien des Euro-Rettungsschirms ESM
und sogenannte Corona-Bonds, also von EU-Institutionen begebene
gemeinsame Anleihen. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hatte
sich offen für solche Bonds gezeigt. Auch mehrere EU-Länder setzen
sich dafür ein, ebenso wie die Sozialdemokraten im Europaparlament.

«Beispiellose Zeiten erfordern beispiellose Maßnahmen», erklärte di
e
sozialdemokratische Fraktionschefin Iratxe García. «Wir fordern die
europäischen Staats- und Regierungschefs auf, Corona-Bonds
herauszugeben und den Europäischen Stabilitätsmechanismus zu
aktivieren.»

Der CSU-Europapolitiker Markus Ferber wandte sich strikt gegen
beides: «Weder Corona-Bonds noch ESM-Kreditlinien werden die
Ausbreitung des Coronavirus zurückdrängen», warnte Ferber. «Die Kri
se
rund um die Auswirkungen des Coronavirus ist kein Grund, jegliche
finanzpolitische Vernunft über Bord zu werfen.»

Auch die Bundesregierung hatte sich in der Vergangenheit stets gegen
Eurobonds gewandt mit dem Argument, so käme es zu einer
Vergemeinschaftung von Schulden und Risiken. Die Debatte über
zusätzliche Maßnahmen wird am Dienstagabend in der Eurogruppe und am
Donnerstag in einem Videogipfel der EU-Staats- und Regierungschefs
weiter geführt.