Corona-Krise: Die EU muss sich beweisen Von Verena Schmitt-Roschmann und Amelie Richter, dpa

26.03.2020 13:03

Jeder macht seins: Das Krisenmanagement der Europäischen Union
rumpelt. Auch EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen übt Kritik an
Alleingängen. Vor dem nächsten Videogipfel der Staats- und
Regierungschefs sind trotzdem einige stolz auf das Erreichte.

Brüssel (dpa) - Die Grenzen dicht, der Binnenmarkt gelähmt, die
Nerven aufgerieben: Die Corona-Krise wird für die Europäische Union
zur Bewährungsprobe. Am Donnerstag nehmen die 27 Staaten neu Anlauf,
endlich an einem Strang zu ziehen. Bundeskanzlerin Angela Merkel und
die übrigen Staats- und Regierungschefs treffen sich wieder zum
Videogipfel. Gleichzeitig tagt das Europaparlament in einer Art
Notformat, um trotz Pandemie überhaupt noch Beschlüsse fassen zu
können.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen übte am Vormittag scharfe
Kritik an den Alleingängen der EU-Staaten in der Corona-Krise. «Als
Europa wirklich füreinander da sein musste, haben zu viele zunächst
nur an sich selbst gedacht», sagte von der Leyen bei der
Sondersitzung des Europaparlaments. «Und als Europa wirklich beweisen
musste, dass wir keine «Schönwetterunion» sind, weigerten sich zu
viele zunächst, ihren Schirm zu teilen.»

Inzwischen habe sich der Trend umgekehrt und die Staaten hätten
begonnen, einander zu helfen, fügte die Kommissionschefin hinzu.
«Europa ist wieder da», sagte von der Leyen. «Aber die Menschen in
Europa verfolgen, was als Nächstes passiert. Und wir alle wissen, was
auf dem Spiel steht.»

WAS SCHIEF LIEF

Drei Dinge haben in den rund vier Wochen seit Ausbruch der Krise in
Europa besonders viel Unmut gestiftet. Eines war die Entscheidung
Deutschlands und Frankreichs, die Ausfuhr knapper medizinischer
Schutzkleidung an EU-Partner zu kappen. Italien und andere Staaten
fühlten sich in ihrer Not alleine. Dann kam die einseitige Einführung
schärfster Kontrollen an Grenzen, die in Europa eigentlich offen sein
sollten. Lastwagen stauten sich Dutzende Kilometer, wichtige Güter
hingen fest. Die EU-Kommissionschefin schimpfte, drang aber nicht
wirklich durch. Und schließlich machte auch bei den Regeln zur
Eindämmung des Virus jeder Staat seins.

WAS GEKLAPPT HAT

In Erwartung einer Jahrhundertkrise für die Wirtschaft gelangen den
27 Staaten und den EU-Institutionen allerdings binnen weniger Tage
beispiellose Entscheidungen: Die seit Jahrzehnten geltenden Schulden-
und Defizitregeln wurden ausgesetzt und Staatszuschüsse an
Unternehmen weitgehend freigegeben, damit haben die 27 Länder fast
völlig freie Hand zur Unterstützung ihrer Wirtschaft. Auf EU-Ebene
wurden zudem Milliarden aus dem EU-Haushalt umgewidmet und
gigantische Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank gestartet. Vor
nur zwei Wochen wäre vieles davon undenkbar gewesen, sagt ein
EU-Diplomat. Das müssten Kritiker bei aller Frustration anerkennen:
«Wenn man sich anschaut, was wir getan haben, muss man sehen, wo wir
noch vor einem Monat waren.»

WAS DER VIDEOGIPFEL NUN BRINGEN SOLL

Aber die Pandemie galoppiert in atemberaubendem Tempo, der Absturz
der Wirtschaft ängstigt fast noch mehr als Covid-19 selbst, und so
wollen einige Länder schon jetzt nachlegen. Vor dem Videogipfel
verlangten Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und acht weitere
Staats- und Regierungschefs, nun auch das letzte Tabu umzuwerfen. Ein
«gemeinsames Schuldeninstrument» fordern sie. Bekannt ist das unter
dem klangvollen Namen Corona-Bonds. Bekannt ist auch: Deutschland,
die Niederlande und einige andere Länder sind dagegen. Umstritten ist
auch, wie und wann der Eurorettungsschirm ESM genutzt wird. Die
angedachte Gipfelerklärung setzt praktischer an. Der Grenzverkehr
soll besser fließen, gemeinsam Schutzausrüstung beschafft, Forschung
an Impfstoffen und Arzneien forciert werden. Weitere Schritte gegen
die Wirtschaftskrise riss der Entwurf des Papiers nur vage an.

WAS IM EU-PARLAMENT ANLIEGT

Einige der von der EU-Kommission vorgeschlagenen und von den
EU-Ländern vereinbarten Maßnahmen brauchen ein ordentliches
Gesetzgebungsverfahren. Deshalb muss das Europaparlament tagen. «In
diesen schwierigen Zeiten ist es unsere Pflicht, im Dienste unserer
Bürger zu stehen», sagte Parlamentspräsident David Sassoli zu Beginn

der Tagung. Während der eintägigen Plenarsitzung in Brüssel sollten
die Abgeordneten über drei Verordnungs-Vorschläge entscheiden. Einer
davon betraf Leerflüge von Airlines, die ihre Start- und Lande-Slots
an Flughäfen nicht verlieren wollen. In den zwei weiteren sollte über
Verordnungen entschieden werden, die den EU-Staaten bei der
finanziellen Bewältigung der Covid-19-Krise helfen sollen.

WIE DIE ABGEORDNETEN ENTSCHEIDEN

Dass die EU-Abgeordneten über die Ferne per E-Mail abstimmten, war
eine Premiere - von den 705 EU-Abgeordneten waren am Donnerstag nur
wenige im Brüsseler Plenarsaal anwesend. Die übrigen verfolgten das
Plenum online. Für die Abstimmung bekamen die Abgeordneten
Stimmzettel per E-Mail. Sie mussten diese ausdrucken, ausfüllen und
eingescannt oder abfotografiert via E-Mail zurücksenden. Das braucht
Zeit. Die Ergebnisse aller Abstimmungen sollten am Donnerstagabend
(gegen 22.30 Uhr) bekannt gegeben werden. Aus Parlamentskreisen gab
es bereits Kritik an der Methode - einige der EU-Abgeordneten hätten
keinen Drucker und dürften nicht in ihre Büros, was die Abstimmung
unmöglich mache. Parlamentsvize Katarina Barley weiß, das mit dem
Ausdrucken sei schon «sehr, sehr Old School». Aber eine technische
Alternative fand sich auf die Schnelle nicht.

WARUM VIDEODIPLOMATIE VOLLER TÜCKEN STECKT

Auch im Rat der EU-Länder behilft man sich in der Not, wie es eben
geht. Nur die 27 EU-Botschafter verhandeln noch in Person, Minister
oder die Chefrunde debattieren in Videoschalten, dann folgt aus
formalen Gründen noch ein Umlaufverfahren. Das alles geht nicht immer
glatt. Neulich brach in einer Videoschalte die Leitung zusammen, ein
Minister musste sich per Telefon neu einwählen und keiner seiner
Kollegen konnte ihn richtig verstehen, so erzählt es ein EU-Diplomat.
Es rumpelt also in der EU, es liegt nicht nur an der Technik, aber
sehr hilfreich ist die eben auch nicht.