Welche Chancen das deutsch-französische Rettungspaket hat Von Verena Schmitt-Roschmann und Jörg Blank, dpa
19.05.2020 18:15
Paris und Berlin legen einen kühnen Plan zur Gesundung der
europäischen Wirtschaft vor. Befürworter und Gegner reiben sich
verwundert die Augen. Es geht um Großes - ziehen die Partner mit?
Brüssel/Berlin (dpa) - Deutschland und Frankreich haben gemeinsam
endlich wieder eine große europäische Initiative angestoßen: ein
Programm zur wirtschaftlichen Erholung nach der Corona-Krise. Doch
steht der 500-Milliarden-Euro-Plan von Bundeskanzlerin Angela Merkel
und Präsident Emmanuel Macron vor großen Hürden. Von mehreren
EU-Partnern kommt Widerspruch, dabei müssten alle 27 Länder das
Aufbauprogramm letztlich einstimmig billigen.
Doch klar war wohl allen am Dienstag, dass hier in der Europäischen
Union Großes passiert. Denn Merkel hat für Deutschland eine
spektakuläre politische Wende hingelegt, die Europa für lange Zeit
prägen könnte.
WORIN BESTEHT MERKELS WENDE?
Noch vor wenigen Wochen stemmte sich die Kanzlerin vehement gegen
eine gemeinsame europäische Schuldenaufnahme. Was jetzt geplant ist,
unterscheidet sich zwar etwas vom in Deutschland verpönten Konzept
der «Corona-Bonds». Dennoch geht der deutsch-französische Vorschlag
weiter als je zuvor: Die EU-Kommission soll in die Lage versetzt
werden, 500 Milliarden Euro über Anleihen am Kapitalmarkt aufzunehmen
und dieses kreditfinanzierte Geld über den EU-Haushalt als
Zuwendungen für Investitionen in Krisenregionen der EU auszuzahlen.
Im Ergebnis bedeutet das: europäische Schulden, die gemeinsam
abgezahlt werden müssen. Deutschland bekommt aller Wahrscheinlichkeit
nach kaum etwas von den Krisenhilfen, begleicht aber die Schulden
über künftige EU-Haushalte zum Großteil mit - immerhin ist
Deutschlands Beitrag zum EU-Haushalt rund 27 Prozent. Nach dieser
Rechnung müsste die Bundesrepublik langfristig 135 Milliarden des 500
Milliarden schweren Pakets schultern. Es ist eine Umverteilung in
einem bisher ungekannten Maß.
WARUM MACHT MERKEL DAS?
Dahinter stehen handfeste wirtschaftliche Interessen, aber auch die
Sorge um den Zusammenhalt der EU. Südländer wie Italien oder Spanien
werfen Deutschland in der Corona-Krise mangelnde Solidarität vor -
und dort lauern Rechtspopulisten nur auf eine Schwäche Europas. Zudem
befürchtet die Kanzlerin, dass China und Russland Einfluss in
Osteuropa gewinnen könnten. Sie habe sich mit Macron
«zusammengerauft», sagt die Kanzlerin, damit die EU-Kernländer
Deutschland und Frankreich gemeinsam ein Signal des Zusammenhalts
senden können.
Europa ist für die Exportnation Deutschland zudem der wichtigste
Handelspartner. Wenn die europäischen Partnerländer wirtschaftlich
nicht wieder auf die Beine kommen, würde das deutschen Unternehmen
massiv schaden. Denn in der Krise hat sich die wirtschaftliche
Schieflage in Europa verstärkt, wie sich an nationalen Krisenhilfen
zeigt: Das finanziell starke Deutschland hat mehr Geld in die eigene
Wirtschaft gepumpt als alle anderen EU-Staaten zusammen - etliche
Partner können sich die Finanzspritzen schlicht nicht leisten. Ihnen
soll über das europäische Programm geholfen werden. Das Prinzip heißt
Solidarität. Und eben auch: Erhalt von Absatzmärkten.
HAT DER PLAN ÜBERHAUPT CHANCEN?
Österreichs Kanzler Sebastian Kurz meldete sofort Bedenken an. Er
will in den nächsten Tagen einen Gegenentwurf vorstellen. «Wir
glauben, dass es möglich ist, die europäische Wirtschaft anzukurbeln
und dennoch eine Vergemeinschaftung der Schulden zu vermeiden», sagte
Kurz den «Oberösterreichischen Nachrichten». Österreich stimme sich
mit den Niederlanden, Dänemark und Schweden ab. Ihr Argument:
Kreditfinanziertes Geld dürfe nicht über Brüssel als Zuschuss
verteilt werden, sondern höchstens ebenfalls als Kredit. So ist es
übrigens bei den bisher beschlossenen EU-Krisenhilfen im Umfang von
540 Milliarden Euro für Kurzarbeiter, Unternehmen und Krisenstaaten:
alles ausschließlich von den Empfängern rückzahlbare Kredite.
WO SITZEN DIE UNTERSTÜTZER?
Die mutmaßlichen Empfängerländer wie Italien oder Portugal reagierten
dagegen freundlich - nach dem Motto: guter Ansatz, aber vielleicht zu
wenig Geld. Die osteuropäischen Kollegen bearbeitete Merkel in einer
Telefonschalte. Ihnen dürfte gefallen, dass die 500 Milliarden Euro
über zwei oder drei Jahre verteilt auf den normalen EU-Haushalt
draufgesattelt werden sollen - statt Hilfsgelder etwa durch Kürzungen
bei Agrar- oder Strukturfonds freizubekommen. Klar ist: Der
deutsch-französische Plan ist nur ein Ausgangspunkt. Offiziell wartet
man nun auf den Vorschlag der EU-Kommission am 27. Mai. Dann folgt
vermutlich Streit - wie immer in der EU bei Haushaltsfragen.
BLEIBT ES EIN EINMALIGER VORGANG - ODER DROHT DER DAMMBRUCH?
Merkel nannte das Paket eine «außergewöhnliche, einmalige
Kraftanstrengung». Aber ob der neue Ansatz für Gemeinschaftsschulden
tatsächlich einmalig bleibt, kann heute niemand sagen. Denn Merkel
sagte auch, was sie nun schon ein paar Mal angedeutet hat: Sie will
mehr Europa, und der deutsch-französische Plan ist eine Art
Grundstein. Bei der ohnehin geplanten Zukunftskonferenz müsse man
darüber ernsthaft sprechen. «Das kann auch Vertragsveränderungen
einschließen; das kann ein sehr viel engeres Zusammenrücken
einschließen», sagte die Kanzlerin. «Denn Europa muss
weiterentwickelt werden.» Ob das auch nach der Bundestagswahl 2021
und dem Ende der Ära Merkel gilt und ob die Deutschen das mittragen,
muss sich erweisen. Macron aber, einst ehrgeizigster Reformer in der
EU, hat Merkel vorerst auf seine Seite gezogen.
GEHT DER WIEDERAUFBAUPLAN ÜBERHAUPT OHNE ÄNDERUNG DER EU-VERTRÄGE?
Das legen Merkel und Macron zumindest nahe. Merkel hat betont, das
Paket müsse im Einklang mit den europäischen Verträgen und dem
europäischen Haushaltsrecht stehen: im Mittelpunkt Artikel 122 des
EU-Vertrags, der Hilfsmaßnahmen im «Geiste der Solidarität» zuläs
st.
Kritiker halten das «Verschuldungsverbot» in Artikel 311 entgegen,
wonach der EU-Haushalt «vollständig aus Eigenmitteln» zu finanzieren
ist. Auch juristisch dürfte es also noch hakelig werden. Wichtig für
Merkel ist, dass die Haushaltsautonomie des Bundestages gewährleistet
ist und ein europäisches Paket auch vor dem Bundesverfassungsgericht
Bestand haben kann.
WIRD DER BUNDESTAG ZUSTIMMEN?
Die Finanzexperten der Unionsfraktion haben sich in einer ersten
Reaktion grundsätzlich positiv geäußert, ebenso SPD, Grüne und
Linkspartei. Die AfD dürfte dagegen sein. Doch wie der Bundestag im
Herbst oder Winter abstimmt, wird davon abhängen, wie das Paket nach
den anstehenden Brüsseler Verhandlungen tatsächlich aussieht.