Experten: Flüchtlingsverteilung bei EU-Reform nicht zurückstellen

27.06.2020 07:10

Auf Innenminister Seehofer wartet eine harte Nuss: Wenn Deutschland
zum 1. Juli den Vorsitz der EU-Staaten übernimmt, will er die
stockenden Gespräche über eine Asylreform voranbringen. Dabei sollte
er eine Kernfrage nicht zu spät angehen, warnen Experten.

Berlin (dpa) - Bei den Verhandlungen über eine Reform des
EU-Asylsystems sollte die Frage der Flüchtlingsverteilung in Europa
nach Einschätzung des Sachverständigenrats für Migration nicht
zurückgestellt werden. «Die Frage der Vorprüfungen von Asylanträgen

an den europäischen Außengrenzen und die Frage, wie Flüchtlinge in
Europa verteilt werden sollen, sollten zusammen verhandelt werden»,
sagte die Vorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen
für Integration und Migration (SVR), Petra Bendel, der Deutschen
Presse-Agentur. «Das muss Hand in Hand gehen.»

Deutschland übernimmt am 1. Juli für ein halbes Jahr den Vorsitz der
EU-Staaten und kann die Verhandlungen auch über die Asylreform
deshalb bis zu einem gewissen Grad steuern. Bundesinnenminister Horst
Seehofer (CSU) kündigte diese Woche an, dabei wolle er zunächst über

Asyl-Vorprüfungen an den Außengrenzen, Zusammenarbeit mit
Herkunftsländern und legale Einreisemöglichkeiten sprechen. Erst
danach solle die seit Jahren höchst umstrittene Frage der Verteilung
besprochen werden.

Gegen Vorprüfungen an den Grenzen sei grundsätzlich nichts
einzuwenden, wenn die Verfahren rechtsstaatlichen Standards
entsprächen, inklusive Beratung und Rechtsbeistand für Asylbewerber,
erklärte Bendel. «Wenn ihnen Schutz gewährt wird muss aber auch klar

sein, dass die Verantwortung für sie besser geteilt wird.» Es dürften

keine neuen Hotspots entstehen, bei denen Staaten wie Griechenland
allein gelassen würden. «Die Frage, wie sich die europäischen Staaten

künftig die Verantwortung für diese Menschen teilen, ist zentral für

jede Reform der europäischen Asylpolitik.»

Die Asylreform kommt seit Jahren kaum voran, weil die EU-Staaten vor
allem bei der Verteilung von Schutzsuchenden völlig zerstritten sind.
Einige Länder wie Tschechien, Ungarn und Österreich lehnen die
verpflichtende Aufnahme von Menschen strikt ab. Vor allem die Länder
an den südlichen Außengrenzen - Spanien, Griechenland, Italien, Malta
- beharren jedoch auf mehr Unterstützung. Nach den derzeit gültigen
Dublin-Regeln sind sie für einen Großteil der Asylanträge zuständig
.

Voraussetzung für Gespräche sind allerdings neue Vorschläge der
EU-Kommission für die Reform. Diese wurden bereits mehrfach
verschoben und verzögern sich nun erneut. Viele EU-Staaten wollten
erst eine vorläufige Einigung über den mehrjährigen gemeinsamen
Haushalt erzielen, sagte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson jüngst
dem Magazin «Politico». Diese müsste noch im laufenden Jahr erzielt

werden, in Brüssel hofft man sogar auf den Juli. Denkbar wäre aber
auch, dass die Fristen überschritten werden und es erst im nächsten
Jahr dazu kommt.

Eine mögliche Verzögerung der EU-Asylreform fürchtet Bendel deswegen

nicht. «Es muss nicht alles unter der deutschen Ratspräsidentschaft
entschieden werden», sagte sie. Schließlich stimme sich die
Bundesregierung mit ihren Nachfolgern Portugal und Slowenien ab.

Bendel forderte aber neue Prioritäten im europäischen
Mehrjahreshaushalt. «Derzeit wendet die EU etwa doppelt so viel Geld
dafür auf, ihre Außengrenzen zu sichern und irreguläre Migration zu
reduzieren, wie sie für den Asyl- und Migrationsfonds ausgibt, der
die Bereiche Asyl, legale Migration, kurzfristige
Integrationsmaßnahmen und Rückführungen umfasst», sagte sie. «Die
EU
sollte ihre Ressourcen gleichmäßiger einsetzen, denn
Migrationspolitik ist mehr als Grenzkontrolle. Sie sollte ihre
Ressourcen stärker als bisher dafür einsetzen, Flüchtlinge zu
schützen und ihre Integration zu fördern, sowie reguläre Wege der
Zuwanderung ausbauen.»