Merkel sieht hohe Erwartungen an deutsche EU-Ratspräsidentschaft

28.06.2020 14:45

Corona-Pandemie, Wirtschaftseinbruch, Brexit - Deutschland übernimmt
die EU-Ratspräsidentschaft in denkbar unruhigen Zeiten. Die übrigen
Länder in Europa erwarten viel von den Deutschen. Die Kanzlerin gibt
eine Zusage.

Berlin (dpa) - Vor Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft sieht
sich die Bundesregierung hohen Erwartungen in Europa ausgesetzt. «Wir
wollen diese Erwartungen erfüllen, indem wir uns dafür einsetzen,
dass wir alle zusammen gut aus der Krise herauskommen und wir Europa
gleichzeitig auf die Zukunft vorbereiten», sagte Kanzlerin Angela
Merkel (CDU) am Samstag in ihrer wöchentlichen Videobotschaft. Die
Aufgaben reichten weit über die unmittelbare Bewältigung der
Corona-Pandemie hinaus. Merkel erinnerte daran, dass Deutschland die
Präsidentschaft unter das Motto «Gemeinsam. Europa wieder stark
machen» gestellt habe. «Und genau dafür werde ich mit aller Kraft
arbeiten.»

Deutschland löst an diesem Mittwoch Kroatien turnusmäßig ab. Im
Zentrum der halbjährigen EU-Ratspräsidentschaft werden die
Corona-Krise und die Bewältigung ihrer wirtschaftlichen und sozialen
Folgen sowie die Brexit-Verhandlungen mit Großbritannien stehen.

Der Kanzlerin zufolge will die Bundesregierung in dieser Zeit auch an
«drei Schlüsselherausforderungen unserer Zeit» arbeiten: Sie wolle
den Klimaschutz ganz oben auf die Agenda setzen, die Digitalisierung
vorantreiben und sich dafür einsetzen, Europa nach außen
handlungsfähiger zu machen. Ziel sei es, als EU geschlossen und
einheitlich aufzutreten, gerade auch in den Beziehungen zu
strategischen Partnern wie China, Russland, der Türkei und den USA.

Außenminister Heiko Maas (SPD) sagte in einem Interview der Deutschen
Presse-Agentur mit Blick auf die Corona-Pandemie: «Europa hat in
dieser Krise viel dazugelernt, über unsere Defizite, aber auch über
unsere Stärken.» Maas betonte: «Wir haben die Koordinierung
verbessert und einander solidarisch Hilfe geleistet, in einem Tempo
und einer Dimension, die es so noch nie zuvor gegeben hat.»

Die wichtigsten Ziele der deutschen Ratspräsidentschaft sind für Maas
die Einigung auf das milliardenschwere Corona-Wiederaufbauprogramm
und die EU-Finanzen bis 2027, der erfolgreiche Abschluss der
Brexit-Verhandlungen mit Großbritannien und die gemeinsame
Positionierung Europas in der Großmächtekonkurrenz zwischen den USA,
China und Russland. «Wir haben nur dann eine Chance, uns in diesem
Umfeld zu behaupten, wenn wir dies zusammen als Europäer tun. Sonst
werden wir zum Spielball von anderen», sagte Maas.

Auch Merkel betonte in ihrem Podcast, es sei wichtig, sich so rasch
wie möglich auf den neuen EU-Haushalt und die Maßnahmen für den
wirtschaftlichen Wiederaufbau nach der Corona-Pandemie zu einigen.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schließt allerdings
ein Scheitern des dazu am 17./18. Juli geplanten Sondergipfels nicht
aus. Möglicherweise werde man einen zweiten Gipfel brauchen, sagte
sie dem «Handelsblatt».

Der Vorschlag der EU-Kommission sieht vor, 750 Milliarden Euro an den
Finanzmärkten aufzunehmen und das Geld dann in ein Konjunktur- und
Investitionsprogramm zu stecken. 500 Milliarden Euro sollen als
Zuschüsse an die EU-Staaten fließen, der Rest als Kredite. Die
Schulden sollen bis 2058 gemeinsam aus dem EU-Haushalt abbezahlt
werden. Verhandelt wird der Plan mit dem nächsten siebenjährigen
EU-Finanzrahmen, für den die Kommission 1,1 Billionen Euro ansetzt.

Bei einer Videokonferenz vor wenigen Tagen hatten Merkel und etliche
ihrer Kollegen zahlreiche Kritikpunkte an diesem Vorschlag geäußert.
So wollen Länder wie Österreich und die Niederlande nicht, dass
EU-Hilfsgelder als nicht zurückzuzahlende Zuschüsse vergeben werden.
Deutschland kritisiert unter anderem die Kriterien für die
Mittelvergabe.

Merkel sagte der «Süddeutschen Zeitung» (Samstag): «Ich arbeite
dafür, auch die Länder zu überzeugen, die bisher Krediten zustimmen,

aber Zuschüsse ablehnen.» Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz
bekräftigte zeitgleich seine Position: «Wir wollen einen Einstieg in
eine dauerhafte Schuldenunion vermeiden und treten daher für eine
klare zeitliche Befristung der Nothilfe und für Kredite anstelle von
Zuschüssen ein», schrieb er in einem Beitrag für das Magazin «Focus
».

Auf die Frage, ob es angesichts der zahlreichen Krisen nicht um den
Fortbestand der EU gehe, sagte Merkel der «SZ»: «Wir sollten nicht
zu
oft die Existenzfrage stellen, sondern unsere Arbeit tun.» Es liege
im ureigenen Interesse aller Mitglieder, einen starken europäischen
Binnenmarkt zu erhalten und in der Welt geschlossen aufzutreten. «Ich
setze darauf, dass die Mitgliedstaaten in einer so außergewöhnlichen
Situation ein hohes Interesse an Gemeinsamkeiten haben.»

Die Bereitschaft zur multilateraler Zusammenarbeit und zum Suchen
nach gemeinsamen Antworten auf Krisen habe deutlich abgenommen, sagte
Merkel weiter. «Der Ton ist international zurzeit rau.» Man müsse
alles daransetzen, nicht in Protektionismus zu verfallen. «Wenn
Europa gehört werden will, muss es ein gutes Beispiel abgeben.»