Maas: Europa darf nicht zum Spielball von anderen werden Interview: Michael Fischer und Bernd von Jutrczenka , dpa

29.06.2020 08:00

Corona-Krise und Brexit, Nahost-Konflikt und Libyen-Krieg: Die
Herausforderungen für den deutschen Doppelvorsitz in EU und UN ab 1.
Juli sind groß, die Erwartungen sind es auch. Außenminister Heiko
Maas erklärt im dpa-Interview, wie man damit umgehen will.

Berlin (dpa) - «Gemeinsam. Europa wieder stark machen.» Das ist das
Motto der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Im Zentrum wird ab dem
kommenden Mittwoch die Bewältigung der Corona-Krise stehen. Im
Interview mit der Deutschen Presse-Agentur schildert Außenminister
Heiko Maas (SPD), was sich die Bundesregierung sonst noch vorgenommen
hat - auch für eine zweite, bisher weniger beachtete Präsidentschaft,
die zeitgleich beginnt.

Frage: Die Erwartungen an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft sind
sehr hoch. Wird es eine der wichtigsten Präsidentschaften der letzten
Jahrzehnte?

Antwort: Es wäre auch ohne Corona eine sehr wichtigste
Ratspräsidentschaft geworden. Durch die Pandemie haben sich die
Erwartungen der Mitgliedsstaaten und der Problemdruck noch einmal
erhöht - wir nehmen die Herausforderung jedenfalls sehr ernst. Wir
müssen die Europäische Union gestärkt aus der Krise herausführen.


Frage: Welche drei Ziele muss Deutschland erreichen, damit man am
Ende des Jahres sagen kann: Diese Präsidentschaft war ein Erfolg?

Antwort: Wir müssen die Finanzfragen lösen, also das
Corona-Wiederaufbauprogramm und den mittelfristigen Finanzrahmen bis
2027 beschließen. Zweitens müssen wir den Brexit erfolgreich
abschließen. Und drittens muss es uns gelingen, Europa in der
globalen Großmächtekonkurrenz zwischen den USA, China und Russland,
die immer unberechenbarer wird, als Einheit zu positionieren. Wir
haben nur dann eine Chance, uns in diesem Umfeld zu behaupten, wenn
wir dies zusammen als Europäer tun. Sonst werden wir zum Spielball
von anderen.

Frage: Die EU hat zu Beginn der Krise kein gutes Bild abgegeben.
Grenzschließungen erfolgten ohne Absprachen, jedes Land hat sich
zunächst einmal um sich selbst gekümmert. Kann sich so etwas
wiederholen?

Antwort: Europa hat in dieser Krise viel dazugelernt, über unsere
Defizite aber auch über unsere Stärken. Wir haben die Koordinierung
verbessert und einander solidarisch Hilfe geleistet, in einem Tempo
und einer Dimension, die es so noch nie zuvor gegeben hat. Es ist
nicht auszuschließen, dass man Grenzen wieder dicht machen muss, wenn
das Infektionsgeschehen in einer bestimmten Region der EU deutlich
höher ist als in einer anderen. Aber sie müssen dann gesamteuropäisch

abgestimmt und koordiniert werden.

Frage: Ein Höhepunkt der Präsidentschaft sollte der EU-China-Gipfel
werden, der wegen Corona verschoben wurde. Es gibt jetzt einige, die
sagen, er sollte wegen der Hongkong-Politik Chinas ganz abgesagt
werden.

Antwort: Durch die Absage eines Gipfels wird sich nichts verändern,
weder in Hongkong noch sonst irgendwo. China ist auf der einen Seite
Systemrivale, auf der anderen Seite aber auch ein wirtschaftlicher
Partner. Deshalb brauchen wir einen Dialog, der dann aber auch
unbequem sein kann. Vor diesem Hintergrund halte ich es nach wie vor
für richtig, diesen Gipfel stattfinden zu lassen, wenn die
Rahmenbedingungen es ermöglichen.

Frage: Die Beziehungen Deutschlands zu der mit China konkurrierenden
Großmacht USA werden derzeit auch auf schwere Belastungsproben
gestellt. Stimmen sie denen zu, die sagen, die Beziehungen seien
heute so schlecht wie noch nie?

Antwort: Die transatlantischen Beziehungen sind außerordentlich
wichtig, sie bleiben wichtig und wir arbeiten auch dafür, dass sie
eine Zukunft haben. Aber so, wie sie jetzt sind, erfüllen sie nicht
mehr die Ansprüche, die beide Seiten daran haben. Deswegen gibt es
dort dringenden Handlungsbedarf.

Frage: Wird bei einer Abwahl von Präsident Donald Trump im November
alles besser?

Antwort: Jeder, der meint, dass mit einem Präsidenten der
Demokratischen Partei wieder alles so wird in der transatlantischen
Partnerschaft, wie es mal war, unterschätzt die strukturellen
Veränderungen.

Frage: Deutschland übernimmt ab Juli auch den Vorsitz im
UN-Sicherheitsrat. Wird die Corona-Pandemie dort ebenfalls ein
bestimmendes Thema sein?

Antwort: Wir wollen einen weiteren Versuch starten, dort zu einer
gemeinsamen Stellungnahme zur Corona-Pandemie zu kommen. Es ist ein
Armutszeugnis für den Sicherheitsrat, dass das bisher nicht möglich
war.

Frage: Woran liegt das bisherige Scheitern?

Antwort: Das liegt vor allem an einem amerikanisch-chinesischen
Konflikt. Der kann vielleicht nicht unbedingt aufgelöst werden durch
eine Resolution. Aber es gibt trotzdem viele Bereiche, in denen die
Staatengemeinschaft die gleichen Ziele hat. China und die USA müssen
ihre Differenzen bei einem so globalen Thema zurückstellen. Es kann
nicht sein, dass der Sicherheitsrat sprachlos bleibt, wenn die ganze
Welt es mit einer solchen Pandemie zu tun hat.

Frage: Verdeutlicht der Fall nicht ein grundsätzliches Problem des
Sicherheitsrats?

Antwort: Ja. Das ist ein weiteres Beispiel dafür, dass der
Sicherheitsrat kurz vor der Handlungsunfähigkeit steht. In den
großen, aktuellen Krisen wie Syrien oder Corona wird der
Sicherheitsrat nicht mehr den Ansprüchen gerecht, die man an ihn
haben müsste. Es gibt eine dauerhafte Selbstblockade - mal von der
einen, mal von der anderen Seite.

Frage: Trotzdem sind alle Versuche einer Reform in den letzten zehn
Jahren gescheitert.

Antwort: Wie der Sicherheitsrat sich gerade präsentiert, zeigt, dass
die Notwendigkeit einer Reform so dringend ist wie noch nie. Bei dem
Thema kommt man aber nicht mehr mit Trippelschritten voran.

Frage: Strebt Deutschland im Zuge einer solchen Reform weiterhin
einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat an?

Antwort: Das ist für uns eines von mehreren Zielen.

Frage: Gleichzeitig mit dem Beginn des deutschen Doppelvorsitzes
könnte am 1. Juli die geplante Annexion palästinensischer Gebiete
durch Israel beginnen. Was kommt da auf Deutschland zu?

Antwort: Mit dem Vorsitz in der EU und im Sicherheitsrat der
Vereinten Nationen werden wir bei dem Thema eine moderierende Rolle
einnehmen. Wir müssen versuchen, sehr, sehr unterschiedliche
Positionen in beiden Institutionen zusammenzuführen. Vom Vorsitz wird
in solchen Situationen eine Mittlerrolle verlangt, aber eher in
diesen Institutionen selbst, weniger vor Ort. Wir werden uns dennoch
weiter auch um direkte Gespräche zwischen Israel und den
Palästinensern bemühen. Das bleibt die einzige Möglichkeit, die
Annexion noch zu verhindern.

ZUR PERSON: Heiko Maas (53) ist Saarländer, leidenschaftlicher
Rennradler, SPD-Politiker und seit März 2018 deutscher Außenminister.
«Ich bin wegen Auschwitz in die Politik gegangen.» Mit diesem Satz
ist er in sein Amt gestartet, hat mit einer harten Haltung gegenüber
Russland Akzente gesetzt und eine Allianz der Multilateralisten
gegründet. Mit der EU-Ratspräsidentschaft und dem Vorsitz im
UN-Sicherheitsrat steht ihm die wichtigste Phase seiner bisherigen
Amtszeit bevor.