Die Last der Erwartungen: Deutschland übernimmt den EU-Vorsitz Von Verena Schmitt-Roschmann, dpa

30.06.2020 13:23

Mitten in einer historischen Krise übernimmt das bevölkerungsreichste
und wirtschaftsstärkste Land den Vorsitz der 27 EU-Staaten. Was man
über die deutsche Ratspräsidentschaft wissen muss.

Brüssel (dpa) - Die Erwartungen an Deutschland sind enorm. Mitten in
der Corona-Krise übernimmt die Bundesrepublik an diesem Mittwoch den
Vorsitz der EU-Staaten. Bundeskanzlerin Angela Merkel soll in den
nächsten sechs Monaten nicht nur den Weg aus der Rezession weisen und
den Brexit einigermaßen glimpflich über die Bühne bringen. Sie soll
Europa einen und modernisieren, dem ganzen Projekt neuen Schub geben.
Was kommt da auf Deutschland zu? Die wichtigsten Antworten:

Was ist die Ratspräsidentschaft überhaupt?

Die EU-Länder wechseln sich alle sechs Monate mit dem Vorsitz der
Ministerräte ab, die für die Gesetzgebung zuständig sind. Deutschland

übernimmt jetzt von Kroatien und gibt zum 1. Januar an Portugal ab.
Während der Ratspräsidentschaft leiten nun deutsche Minister die
Beratungen mit ihren EU-Kollegen, also etwa Heiko Maas die Treffen
der Außenminister oder Peter Altmaier die der Wirtschaftsminister.
Für informelle Treffen und Konferenzen laden sie ins eigene Land -
derzeit wegen Corona jedoch nur eingeschränkt. Jedes Vorsitzland
versucht, eigene politische Schwerpunkte zu setzen, aber auch als
Vermittler in Verhandlungen Kompromisse zuwege zu bringen.

Welche Rolle hat Bundeskanzlerin Merkel?

Formal gar keine. Früher war das anders: 2007 leitete Merkel bei
ihrer ersten deutschen Ratspräsidentschaft die Sitzungen der Staats-
und Regierungschefs. Doch 2009 wurde mit dem Vertrag von Lissabon der
Posten eines hauptamtlichen Ratspräsidenten geschaffen, der jetzt für
die Leitung der Gipfel zuständig ist. Derzeit ist das der Belgier
Charles Michel. Trotzdem sind die Erwartungen auch an Merkel
persönlich hoch. Sie ist von all ihren EU-Kollegen am längsten im
Amt, sie gilt als krisenerprobt und pragmatisch. Und sie vertritt das
bevölkerungsreichste und wirtschaftsstärkste EU-Land.

Was hat Deutschlands Vorgänger Kroatien erreicht?

Kroatien, das jüngste EU-Mitglied, hatte als Topthema die engere
Bindung der EU an den Westbalkan gewählt. Doch die Präsidentschaft
wurde von der Pandemie überrollt. Üblicherweise finden nach
offiziellen Angaben pro Halbjahr bis zu 1500 EU-Arbeitstreffen statt,
von der Fach- bis zur Ministerebene. In der Corona-Krise schwand die
Kapazität auf nur noch zehn Prozent. Ministertreffen und ein Gipfel
in Zagreb wurden gestrichen, alles auf Videokonferenzen und
Krisenbetrieb umgestellt. Anfangs rumpelte es bedenklich zwischen den
27 EU-Staaten, nach und nach rauften sie sich wieder zusammen.

Was hat sich Deutschland vorgenommen?

An erster Stelle steht die Krisenbewältigung. «Das Virus muss
eingedämmt, die europäische Wirtschaft wieder aufgebaut und der
soziale Zusammenhalt in Europa gestärkt werden», erklärt die
Bundesregierung. Dazu soll rasch das geplante Milliarden-Programm zur
wirtschaftlichen Erholung beschlossen werden, zusammen mit dem
nächsten siebenjährigen EU-Haushaltsplan bis 2027, möglichst schon
bei einem Sondergipfel in Brüssel am 17. und 18. Juli.

Zugleich will Merkel den Klimaschutz und die Digitalisierung
voranbringen. Außenminister Maas nennt zwei weitere Punkte: den
geordneten Abschluss des britischen EU-Austritts zum Jahresende und
eine stärkere Rolle Europas zwischen den globalen Großmächten USA,
China und Russland. Auch die Konferenz zur Zukunft Europas - eine
Bürgerdebatte - soll auf den Weg gebracht werden. Details stehen im
24-seitigen Präsidentschaftsprogramm. Die Pandemie schränkt die
EU-Arbeit weiter ein, nach Einschätzung eines deutschen Diplomaten
auf rund 30 Prozent des Üblichen. Vieles muss weiter online laufen.

Wie viel kostet die Präsidentschaft die deutschen Steuerzahler?

Das ist wegen der Corona-Krise schwer zu sagen. Ursprünglich
erwartete die Bundesregierung zusätzliche Sach- und Personalkosten
von gut 161 Millionen Euro, wie sie auf eine Anfrage der Grünen
mitteilte. Doch weil Treffen abgesagt wurden und auch der große
EU-China-Gipfel in Leipzig vertagt wurde, dürften Reise- und
Organisationskosten wegfallen. Auf Gastgeschenke und große Sponsoren
will die Bundesregierung ohnehin verzichten.

Wer bestimmt, welches Land mit der Präsidentschaft dran ist?

Das wird mit einem Ratsbeschluss langfristig festgelegt, folgt aber
einer festen Rotation: alle einmal durch und dann wieder von vorne.
Als die Europäischen Gemeinschaften anfangs nur sechs Mitglieder
hatten und später neun, waren die Abstände kurz. Deshalb ist es auch
schon die 13. deutsche Ratspräsidentschaft. Das nächste Mal ist
Deutschland aber erst nach 2030 wieder dran.