EU-Finanzstreit: Ratschef Michel schlägt Kompromiss vor

10.07.2020 13:20

Seit Wochen ringen die EU-Staaten um ein milliardenschweres
Finanzpaket als Antwort auf die tiefe Corona-Krise. Die Positionen
liegen weit auseinander. Nun soll ein Kompromissvorschlag eine Brücke
bauen. Eine Revolution ist es nicht.

Brüssel (dpa) - In den Streit der EU-Staaten über ein
milliardenschweres Corona-Konjunkturprogramm soll ein neuer Vorschlag
von Ratschef Charles Michel Bewegung bringen. Neu sind vor allem
konkrete Pläne zur Rückzahlung der vorgesehenen EU-Schulden, unter
anderem mit einer Plastikabgabe ab 2021. Auch sollen die EU-Staaten
Kontrolle erhalten, wie die Krisenhilfen verteilt werden. Doch bleibt
der Knackpunkt unverändert: der Umfang des Aufbauplans von 750
Milliarden Euro und die Vergabe des Großteils als Zuschüsse.

Michel präsentierte seinen Vorschlag am Freitag in Brüssel - genau
eine Woche vor einem zweitägigen EU-Sondergipfel zum Thema. «Ich
möchte eine Brücke zwischen den verschiedenen Meinungen bauen», sagte

der Belgier. Jetzt liege ein konkreter Plan für die weiteren
Verhandlungen auf dem Tisch. Michel räumte aber ein, dass noch
intensive Gespräche nötig seien.

Ein EU-Diplomat eines größeren Mitgliedsstaats nannte den Vorschlag
eine gute Verhandlungsgrundlage und einen wichtigen Schritt zu einer
Einigung beim Gipfel. Allerdings werde wohl «nicht jeder mit allem
übereinstimmen und es wird intensive Verhandlungen geben».

Die EU-Kommission hatte Ende Mai einen über Schulden finanzierten
Corona-Wiederaufbauplan im Umfang von 750 Milliarden Euro
vorgeschlagen, davon 500 Milliarden Euro als Zuschüsse. Dieses Geld
müsste nicht von den Empfängern zurückgezahlt werden. Vielmehr sollen

die Schulden gemeinsam über den EU-Haushalt getilgt werden.

Der Punkt ist im Kreis der 27 Staaten äußerst umstritten. Die
sogenannten Sparsamen Vier - die Niederlande, Österreich, Schweden
und Dänemark - haben Einspruch eingelegt. Dennoch bleibt Michel bei
den Eckpunkten: 750 Milliarden Euro, davon zwei Drittel als
Zuschüsse.

Änderungen schlägt der Ratschef beim siebenjährigen
EU-Haushaltsrahmen vor, der mit dem Wiederaufbauplan im Paket
verhandelt wird. Dafür hatte die Kommission 1,1 Billionen Euro
vorgesehen - Michel will nur 1,074 Billionen Euro, also etwa 26
Milliarden Euro weniger auf sieben Jahre. Für die Nettozahler
Deutschland, Österreich, Dänemark, die Niederlande und Schweden soll
es weiter Beitragsrabatte geben - ein Zugeständnis an die «Sparsamen
Vier».

Einige wichtige Neuerungen schlägt er auch im Detail vor. So hatte es
Kritik an den Vorschlägen der Kommission zur Verteilung der
Krisenhilfen gegeben. Sie wollte wichtige Wirtschaftsdaten aus den
Jahren 2015 bis 2019 zugrunde legen, also vor der Corona-Krise.
Michel plädiert dafür, nur 70 Prozent der Zuschüsse aus dem
sogenannten Aufbau- und Resilienzinstrument auf diese Weise zu
verteilen und 30 Prozent dann ab 2023 auf Grundlage der tatsächlichen
Krisenfolgen.

Konkreter ist Michels Vorschlag auch bei der Rückzahlung der 750
Milliarden Euro Schulden, die die EU-Kommission im Namen der EU
aufnehmen will. Dafür will er der EU neue eigene Einnahmen
verschaffen, nämlich bereits ab 2021 eine Abgabe auf Plastikabfälle.
Zweite Geldquelle könnte eine Abgabe auf importierte und nicht
klimafreundliche Waren sein, genannt «Carbon Border Adjustment
Mechanism». Hinzu könnten Teile der Einnahmen aus dem Europäischen
Emissionshandel kommen sowie weitere Einkünfte etwa aus einer neuen
Digitalabgabe.

Mit Hilfe dieser Einnahmen soll ab 2026 begonnen werden, die
EU-Schulden abzutragen. Das war vor allem Deutschland wichtig, den
Start der Tilgung nicht zu weit hinauszuschieben. Die EU-Kommission
wollte erst 2028 beginnen und die Rückzahlung bis 2058 abschließen.

Neu ist in Michels Vorschlag auch eine fünf Milliarden Euro schwere
Brexit-Notfallreserve im EU-Haushalt einrichten. Das Geld könnte im
Fall der Fälle unvorhergesehene Folgen für besonders schwer vom
Brexit betroffene EU-Staaten und Wirtschaftsbranchen lindern.
Großbritannien hat die EU Ende Januar verlassen, ist aber noch bis
Jahresende Mitglied des europäischen Binnenmarkts und der Zollunion.
Danach droht ein wirtschaftlicher Bruch.

Vergleichsweise vorsichtig geht Michel mit Forderungen um, die
Vergabe von EU-Geldern künftig ganz klar von der Einhaltung
rechtsstaatlicher Standards abhängig zu machen. Mittel sollen demnach
nur dann gekürzt werden können, wenn es im Rat der Mitgliedstaaten
eine qualifizierte Mehrheit aktiv zustimmt.

Der Grünen-Haushaltsexperte Rasmus Andresen nannte Michels Vorschlag
zum Rechtsstaatsmechanismus enttäuschend. «Sein Vorschlag macht es
Viktor Orban und anderen zu einfach, im Rat den Entzug von
Fördermitteln zu blockieren», monierte Andresen mit Blick auf den
ungarischen Ministerpräsidenten, dessen Rechtsstaatspolitik in der EU
sehr umstritten ist.