Brexit-Streit: Umstrittenes britisches Gesetz nimmt erste Hürde Von Verena Schmitt-Roschmann, Larissa Schwedes und Silvia Kusidlo, dpa

15.09.2020 16:13

Zieht Großbritannien die Pläne zum Bruch des Brexit-Abkommens durch?
Die erste Hürde hat das umstrittene Vorhaben nun genommen. Der EU
bleibt nichts, als ihre Mahnungen und Warnungen zu wiederholen.

London/Brüssel (dpa) - Es sind zwei Züge, die aufeinander zurasen:
Großbritannien treibt Pläne für ein Gesetz voran, das den geltenden
Brexit-Vertrag teils aushebeln würde. Und die Europäische Union mahnt
dringend zur Abkehr von dem geplanten Vertragsbruch. Das sei die
klare Erwartung an London, wiederholte EU-Kommissionssprecher Eric
Mamer am Dienstag in Brüssel nach dem ersten Votum für das
Binnenmarktgesetz im britischen Unterhaus. Die Gefahr eines harten
Bruchs beider Seiten zum Jahresende wirkt inzwischen sehr real. Es
bleiben gerade noch vier Wochen, um den Crash zu stoppen.

Die Endlosgeschichte des Brexits ist so verworren, dass man sich kurz
erinnern muss: Großbritannien ist Ende Januar aus der EU ausgetreten,
und zwar auf Grundlage eines vereinbarten und ratifizierten Vertrags,
der unter anderem eine Übergangsfrist bis Ende 2020 vorsieht. Vor
allem aber steht darin eine Lösung zur Vermeidung von Grenzkontrollen
zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland, die den
brüchigen Frieden auf der Insel gefährden würden.

Dieses «Nordirland-Protokoll» galt damals als «Quadratur des
Kreises». Und genau diesen Punkt will der britische Premierminister
Boris Johnson mit dem Binnenmarktgesetz aufbohren. Es würde
vertraglich vereinbarte Sonderregeln für Nordirland aushebeln, die
verhindern, dass britische Güter unkontrolliert und zollfrei über die
irische Grenze in die EU strömen. So werden Zollerklärungen fällig
für Güter, die vom britischen Festland ins britische Nordirland
kommen. Für diese sollen auch scharfe Subventionsregeln gelten.

Johnson klagt, das britische Nordirland könnte so vom Rest des Landes
abgekoppelt und quasi der Willkür der EU ausgesetzt werden.
Zusätzlich führt der Regierungschef an, dass die EU britische
Lebensmittelexporte nach Nordirland stoppen könnte. Das hat nicht
direkt mit dem Austrittsvertrag zu tun, sondern mit den
Handelsbeziehungen ab 2021. Die EU muss Großbritannien bescheinigen,
dass die dortigen Lebensmittel EU-Standards entsprechen und somit
weiter in der Europäischen Union verkauft werden dürfen.

Obwohl das als Formsache galt, steht der Schritt noch aus.
Großbritannien habe noch nicht die nötigen Informationen geliefert,
so EU-Unterhändler Michel Barnier. Johnson kritisiert das drastisch:
Die EU habe «diesen Revolver noch immer nicht vom Tisch genommen».

Womit wir bei den Verhandlungen über den nächsten Vertrag wären: den

angestrebten Handelspakt für die Zeit nach Ablauf der Übergangsfrist,
wenn Großbritannien aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion
ausscheidet. Er soll bis Mitte Oktober fertig sein - ansonsten droht
ein harter Bruch mit Zöllen und hohen Handelshürden. Johnson sagte,
sein Gesetzesplan mache eine Einigung beim Handelspakt
wahrscheinlicher.

Äh, nein, heißt es dazu in Brüssel. «Johnson wird kein
vertrauenswürdiger Partner dadurch, dass er einen Vertrag, den er
gerade geschlossen hat, wieder bricht», sagte ein EU-Diplomat am
Dienstag. Wenn Großbritannien ein Handelsabkommen wolle, müsse es den
Plan zum Bruch des Brexit-Vertrags zurückziehen. Einen Verstoß gegen
internationales Recht - und den hat die britische Regierung sogar
selbst eingeräumt - könne die EU nicht durchgehen lassen.

Die EU-Kommission hatte deshalb schon vorige Woche die britische
Regierung aufgefordert, die Pläne spätestens bis Ende September
zurückzuziehen. Dass sie den Ball erstmal flach hält, hat zwei
Gründe: Sie will nicht die Verantwortung für einen harten Bruch. Und
sie fürchtet, dass in Irland ohne Einigung mit London im schlimmsten
Fall eben doch Warenkontrollen nötig wären. Der irische Außenminister

Simon Coveney nannte das britische Vorgehen «schockierend».

In Großbritannien wiederum wird der geplante Vertragsbruch hitzig
debattiert, auch vor der Abstimmung am Montagabend im Unterhaus. «Was
für ein gescheitertes Regieren!», empörte sich der Abgeordnete der
oppositionelle Labour-Partei, Ed Miliband. Das Binnenmarktgesetz nahm
dann zwar am späten Abend die erste Hürde im Parlament mit 340 zu 263
Stimmen. Doch gaben 30 Abgeordnete von Johnsons konservativer Partei
ihre Stimme nicht ab. Zwei Konservative, Roger Gale und Andrew Percy,
stimmten gegen das Gesetz. «Ich bin nicht überrascht, dass ich zu
einer kleinen Minderheit gehöre», sagte Gale der BBC. «Ich denke, das

könnte sich am kommenden Dienstag ändern.»

Dann wird über einen Änderungsantrag abgestimmt, der entscheidend
sein könnte. Damit will eine Gruppe um den Konservativen Bob Neill
erreichen, dass die Maßnahmen des Binnenmarktgesetzes nur im
absoluten Notfall zum Einsatz kommen. Den müsste die Regierung dem
Parlament detailliert erklären und die Abgeordneten abstimmen lassen.

Wie viele konservative Rebellen werden nächste Woche wohl ihrem
Regierungschef die Stirn bieten? Johnson verfügt über eine Mehrheit
von 80 Stimmen im Unterhaus. Der Gesetzesentwurf muss aber auch das
Oberhaus passieren, aus dem bereits scharfe Kritik zu hören war.
Kommt es zu einem Ping-Pong-Spiel zwischen Unter- und Oberhaus,
könnte sich das über Wochen hinziehen.

Brexit hin, Brexit her: Es gibt noch ein gravierendes Problem, mit
dem die britische Regierung zu kämpfen hat. Eine zweite gewaltige
Coronavirus-Welle erfasst das Land, warnen Regierungsexperten. Die
Infektionszahlen schnellen bereits in die Höhe. Johnson, der selbst
nach einer Corona-Infektion auf einer Intensivstation um sein Leben
kämpfte, hatte auf die erste Welle zu spät und falsch reagiert. Die
Regierung scheint das Problem nicht in den Griff zu kriegen. Es
mangelt wieder erheblich an Corona-Tests; viele Kliniken sagen
wichtige Operationen ab, wie britische Medien am Dienstag
berichteten. Experten rechnen mit Chaos im Herbst - das sich mit
einer weiteren Zuspitzung des Brexit-Streits überlappen könnte.