Neues EU-Klimaziel: Den einen zu wenig, den anderen zu viel

16.09.2020 14:30

Hitze, Trockenheit, Brände, Stürme: Die meisten Wissenschaftler sind
sich einig, dass der Klimawandel im vollen Gange ist. Jetzt hat
EU-Kommissionschefin von der Leyen vorgeschlagen, noch entschiedener
gegenzusteuern. Die Kritik lässt nicht lange auf sich warten.

Brüssel (dpa) - Mit dem Vorschlag für ein ehrgeizigeres EU-Klimaziel
hat Kommissionschefin Ursula von der Leyen Widerspruch ausgelöst -
und zwar sowohl von Umweltschützern als auch aus der Wirtschaft. Sie
schlug am Mittwoch offiziell vor, den Ausstoß von Treibhausgasen in
der Europäischen Union bis 2030 um mindestens 55 Prozent unter den
Wert von 1990 zu drücken - statt der bisher anvisierten 40 Prozent.
Wirtschaftsverbände warnten vor Überforderung. Klimaschützer
kritisierten die Ankündigung hingegen als Mogelpackung.

Denn in der neuen Zielmarke sei - anders als bisher - die Aufnahme
von Kohlendioxid durch Wälder und Böden einberechnet, beklagte nicht
nur die Deutsche Umwelthilfe. Das schwäche das neue Ziel um 2,5
Prozent. Der Umweltverband sprach von einem Taschenspielertrick.
Ähnliche Kritik kam von SPD und Linken im Europaparlament.

Von der Leyen hatte voriges Jahr eine Spanne von 50 bis 55 Prozent
für das neue Klimaziel genannt. Dass sie nun mit «mindestens minus 55
Prozent» ans obere Ende gehen will, hatte sich seit einigen Tagen
abgezeichnet. Den Vorschlag machte sie nun offiziell in ihrer Rede
zur Lage der Europäischen Union. Vor einer Festlegung stehen
Verhandlungen mit den EU-Staaten und dem Europaparlament an.
Deutschland ist dabei Vermittler, da es den Vorsitz der 27 EU-Länder
inne hat.

Die Bundesregierung begrüßte von der Leyens Vorschlag offiziell und
will ihn prüfen. Im Europaparlament dringen unter anderem die Grünen
auf noch höhere Ziele. Der Umweltausschuss plädierte zuletzt für
minus 60 Prozent. CDU und CSU bremsen hingegen eher. Die
rechtskonservative Fraktion EKR und die rechtsextreme ID halten von
der Leyens Vorschlag für abwegig.

Die Kommissionschefin sagte, sie wisse, dass einigen diese Erhöhung
des Einsparziels zu viel sei und anderen nicht genug. Doch aus ihrer
Sicht sei diese neue Zielvorgabe ehrgeizig, machbar und gut für
Europa. Eine exakte Folgenabschätzung der EU-Kommission habe ergeben,
dass Wirtschaft und Industrie die Verschärfung bewältigen könnten.
Diese Analyse soll am Donnerstag veröffentlicht werden.

Das neue Ziel würde große zusätzliche Anstrengungen im Klimaschutz
bedeuten. Geschafft wurden in den 29 Jahren von 1990 bis 2019 nach
Angaben der EU-Kommission rund 25 Prozent Minderung. Für das neue
Ziel bleiben nur zehn Jahre. Von der Leyen betonte, inzwischen habe
man die benötigten technischen Mittel.

Die deutsche Industrie bezweifelt jedoch, dass das Ziel auf
wirtschaftliche Weise erreichbar ist. «Durch die Anhebung der Ziele
müssen nun Unternehmen in Deutschland absehbar mit viel höheren
CO2-Kosten und strengeren Vorgaben rechnen», warnte der Deutsche
Industrie- und Handelskammertag. Der Bundesverband der Deutschen
Industrie sprach von «enormen Herausforderungen mit ungewissem
Ausgang». Der Verband der Automobilindustrie erklärte, neue
Klimaziele hätten Auswirkungen auf Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und
Beschäftigung.

Auf die Autobauer dürften neue, schärfere CO2-Grenzwerte zukommen.
Zudem soll der Verkehr nach Plänen der EU-Kommission in den
Emissionshandel einbezogen werden. Zugleich müssen riesige Summen in
den weiteren Umbau der Energieversorgung und der Industrie sowie in
die Sanierung von Häusern investiert werden. Die Kommission beziffert
die Steigerung der Investitionssumme auf 350 Milliarden Euro pro Jahr
im Vergleich zu den vergangenen zehn Jahren.

Für die Klimawende will von der Leyen das Corona-Wiederaufbauprogramm
in Höhe von 750 Milliarden Euro nutzen. 30 Prozent dieser Summe, die
die EU über gemeinsame Schulden finanzieren will, sollen aus «grünen

Anleihen» beschafft werden, kündigte die Kommissionschefin an.

Europäisches Geld solle vor allem in Leuchtturm-Projekte mit
größtmöglicher Wirkung investiert werden, darunter Wasserstoff,
Renovierung von Häusern und in eine Million Ladestationen für
Elektrofahrzeuge. Von der Leyen sprach von «European Hydrogen
Valleys» zur Modernisierung der Industrie und zur Entwicklung neuer
Kraftstoffe für Fahrzeuge.

Für Gebäude, aus denen heute 40 Prozent der Klimagas-Emissionen
stammen, brauche es eine Renovierungswelle. «Deshalb werden wir ein
neues europäisches Bauhaus errichten, einen Raum, in dem Architekten,
Künstler, Studenten, Ingenieure und Designer gemeinsam und kreativ an
diesem Ziel arbeiten», betonte von der Leyen.