Rund 1200 Migranten im neuen Lesbos-Lager - Seehofer übt Kritik
16.09.2020 16:03
Seehofer ist zufrieden mit dem Kompromiss zur Aufnahme von bereits in
Griechenland anerkannten Flüchtlingsfamilien. Für die anstehenden
Verhandlungen über eine gemeinsame Asylpolitik in Europa sei die
deutsche Moral-Debatte zu Moria aber schädlich gewesen, meint er.
Athen/Berlin (dpa) - Eine Woche nach dem Brand in dem überfüllten
Flüchtlingslager Moria sind auf Lesbos immer noch rund
11 000 Migranten obdachlos. Die Aufnahme von Asylbewerbern in einem
provisorischen Zeltlager auf der griechischen Insel kommt nur
schleppend voran.
Bis zum Mittwochmittag waren gut 1200 Menschen in das Camp Kara Tepe
gegangen, wie der staatliche Rundfunk (ERT) unter Berufung auf das
Migrationsministerium berichtete. 35 Migranten seien positiv auf das
Corona-Virus getestet worden. Sie seien isoliert worden, hieß es.
Forderungen deutscher Politiker nach einer Aufnahme von Tausenden von
Migranten aus Moria haben die deutsche Position bei den anstehenden
Verhandlungen zur europäischen Außenpolitik nach Ansicht von
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) geschwächt. Er sei der
Meinung, «dass es durch die Debatte der letzten Tage nicht einfacher
geworden ist», sagte der Minister bei einer Befragung im Bundestag.
«Wenn Ihr in Deutschland ständig sagt: «Wir sind die einzigen, die
eine Moral haben, wir holen die Moralkeule heraus, alle anderen
können das nicht»», dann werde es nicht leichter, eine solidarische
Lösung zu finden.
Der SPD-Innenpolitiker Helge Lindh mahnte eine menschenwürdige
Unterbringung der Asylsuchenden auf Lesbos an. Seehofer antwortete,
dies werde in einer neuen Sammelunterkunft, die von Griechenland
gemeinsam mit der Europäischen Union errichtet und betrieben werden
soll, gewährleistet.
«Wenn wir alle zu Kompromissen bereit sind - ohne unsere Prinzipien
aufzugeben - können wir eine Lösung finden», sagte
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in einer Rede zur Lage
der Europäischen Union. Die Bilder des abgebrannten Flüchtlingslagers
Moria in Griechenland hätten schmerzhaft vor Augen geführt, «dass
Europa hier gemeinsam handeln muss». Mit dem neuen Migrationspakt
sollten Asyl- und Rückführungsverfahren enger verknüpft werden,
Schleuser stärker bekämpft und der Außengrenzschutz forciert werden.
Außerdem solle es engere Partnerschaften mit Drittländern geben.
Nachdem das überfüllte Flüchtlingslager abgebrannt war, hatte die
Bundesregierung erst die Aufnahme von bis zu 150 unbegleiteten
Minderjährigen angekündigt. Auch zehn andere europäische Staaten
wollten Jugendliche aufnehmen. Am Dienstag wurde dann entschieden,
noch 1553 weitere Menschen in Deutschland aufzunehmen - dabei handelt
es sich um Flüchtlingsfamilien mit Kindern von den Ägäis-Inseln,
deren Schutzbedürftigkeit in Griechenland bereits festgestellt wurde.
Auf der Insel Samos wurde am Mittwochmorgen Entwarnung gegeben.
Starke Winde hätten die Flammen eines Brandes, der am späten
Dienstagabend am Rande des Asylbewerber-Registriercamps von Vathy
ausgebrochen war, in Richtung eines nicht dicht bewaldeten Hügels
getrieben. Die Feuerwehr hätte den Brand dann löschen können,
berichtete das Staatsradio. Die Polizei und die Feuerwehr hätten
einige Menschen in Gewahrsam genommen. Es werde untersucht, ob sie in
eine Brandstiftung verwickelt gewesen seien, hieß es. Auf Samos leben
rund 4600 Migranten.
Die Brände zeigten, «dass die anarchisch funktionierenden jetzigen
Camps geschlossen werden und neue geschlossenere Camps entstehen
müssen», erklärte der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis
im Staatsfernsehen. Auf Lesbos wurden die Migranten mit Flugblättern
in sieben Sprachen informiert, dass sie den Asylprozess nur im neuen
Lager durchlaufen könnten. Die Sicherheitskräfte hatten am Dienstag
sechs junge Afghanen als mutmaßliche Brandstifter festgenommen.
Griechenland will alle rund 12 000 Bewohner des abgebrannten Lagers
Moria weiter vor Ort unterbringen und nicht auf das Festland bringen
- das haben Regierungsvertreter mehrfach betont. Hintergrund ist die
Befürchtung, dass sonst auch Migranten in anderen Lagern absichtlich
Feuer legen könnten, um ihre Weiterreise nach Europa, insbesondere
nach Deutschland, zu erzwingen. Außerdem befürchtet Athen, dass noch
mehr Migranten, die sich zurzeit in der Türkei aufhalten, zur
Überfahrt nach Europa animiert werden - das soll verhindert werden.
Zudem verweist Athen auf Zahlen, wonach Asylanträge von vielen
Migranten in Moria entweder noch nicht entschieden oder aber
abgelehnt wurden.
Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) begrüßte zwar die Aufnahme von
rund 1500 Flüchtlingen in Deutschland - zeigte sich jedoch über die
Auswahlkriterien überrascht. «Es handelt sich ja dabei um Menschen,
die bereits einen Flüchtlingsstatus haben», sagte der deutsche
UNHCR-Sprecher Chris Melzer am Mittwoch der Deutschen Presse-Agentur.
Dabei hätte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf)
ausreichend Kapazitäten und Know-how gehabt, um Griechenland bei der
Bearbeitung von Asylanträgen zu unterstützen. «Es wäre vielleicht
sinnvoller gewesen, man hätte Menschen aufgenommen, die noch vor dem
Asylverfahren stehen.»
Dennoch sei es ein positives Signal, denn so werde die Zahl der
Menschen auf den Inseln verringert - was ohnehin im Moment die
dringendste Aufgabe sei. «Die Camps auf den griechischen Inseln
müssen entlastet werden, sie sind immer noch bis zu vierfach
überbelegt», sagte Melzer.