EU-Gipfel: Klare Kante im Brexit-Streit, Ehrgeiz beim Klimaziel

15.10.2020 17:58

Bundeskanzlerin Merkel und ihre EU-Kollegen haben Themen auf der
Karte, die den Kurs der EU auf Jahre hinaus bestimmen könnten. Und
dann meldet sich auch noch die Corona-Krise mit Macht zurück.

Brüssel (dpa) - Der EU-Gipfel hat Großbritannien im Streit über den
geplanten Brexit-Handelspakt offiziell zum Einlenken aufgefordert.
Man rufe «Großbritannien auf, die nötigen Schritte zu tun, um ein
Abkommen möglich zu machen», beschlossen die Staats- und
Regierungschefs am Donnerstag in Brüssel. «Wir wollen ein Abkommen,
aber nicht um jeden Preis», sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel
(CDU). Die EU will in den nächsten Wochen weiter verhandeln - während
Großbritannien den Abbruch der Gespräche in Erwägung zieht.

Neben dem Brexit-Streit standen auf der Gipfel-Agenda eine Debatte
über die Verschärfung des EU-Klimaziels - hier zieht Deutschland mit
- sowie die mit Macht zurückgekehrte Corona-Krise. Zudem wollten die
Staats- und Regierungschefs unter anderem den Erdgasstreit mit der
Türkei und den Ausbau der Beziehungen mit Afrika beraten. Zu Beginn
ging es um die stockenden Verhandlungen mit dem Europaparlament über
den EU-Haushaltsrahmen und das Corona-Aufbaupaket. Hier stellte
Parlamentspräsident David Sassoli Nachforderungen, die laut
Diplomaten einhellig zurückgewiesen wurden.

Das wohl größte Kopfzerbrechen bereitet den EU-Staaten aber vorerst
der drohende wirtschaftliche Bruch mit Großbritannien. Zum Jahresende
scheidet das Vereinigte Königreich aus dem Binnenmarkt und der
Zollunion aus. Der anvisierte Handelspakt soll Zölle und andere
Handelshemmnisse verhindern, doch er ist längst nicht fertig. Der
britische Premier Boris Johnson hatte eine Einigung bis 15. Oktober
verlangt. Er will nach dem Gipfel entscheiden, ob er die
Verhandlungen auch in den nächsten Wochen weiter führt.

Merkel sagte, man müsse zu einer fairen Vereinbarung kommen, von der
beide Seiten profitieren könnten. «Es lohnt sich alle Mühe.»
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen lobte, es sei schon viel
gute Arbeit geleistet worden. Zwei entscheidende Punkte seien aber
offen: die Frage gleicher Wettbewerbsbedingungen im Gegenzug für
britischen Zugang zum EU-Binnenmarkt sowie die Fischerei-Rechte.
Diese Streitfragen sowie einen Mechanismus zur Streitschlichtung
nannte auch die Gipfelerklärung zum Brexit, die gleich zum Auftakt
angenommen wurde.

Vor allem Frankreich verlangt mit Nachdruck, dass EU-Fischer weiter
in britischen Gewässern fangen dürfen. «Auf keinen Fall dürfen unse
re
Fischer die Opfer des Brexits sein», sagte Präsident Emmanuel Macron
und betonte ebenfalls: «Es wird nicht um jeden Preis eine Einigung
geben.» Mehrere Staats- und Regierungschefs äußerten aber Zuversicht,

dass ein Deal möglich sei.

Mit Blick auf das anvisierte neue EU-Klimaziel ergriffen elf der 27
Staaten vor dem Gipfel die Initiative und stellten sich ausdrücklich
hinter den Vorschlag der EU-Kommission, die Treibhausgase bis 2030 um
mindestens 55 Prozent unter den Wert von 1990 zu senken. Dafür
signalisierte auch Merkel erneut Unterstützung. Es wäre wichtig, wenn
sich die EU-Mitgliedstaaten bis Dezember gemeinsam zu diesem Ziel
bekennen würden, sagte die CDU-Politikerin. «Deutschland wird das
jedenfalls tun.» Bisher gilt als Ziel für 2030 minus 40 Prozent.

Einige EU-Staaten sind noch skeptisch, darunter Polen, das stark auf
Kohle angewiesen ist. Auch der tschechische Ministerpräsident Andrej
Babis sagte, sein Land werde eine so starke Reduzierung der
Treibhausgase nicht schaffen. Er sei aber nicht grundsätzlich gegen
das 55-Prozent-Ziel, wenn andere Staaten mehr Reduktion übernähmen.

EU-Ratschef Charles Michel sagte, nun müsse man sehen, welche
«Bausteine» nötig seien, um alle EU-Staaten von dem 55-Prozent-Ziel
zu überzeugen. Es geht unter anderem um Finanzhilfen für den Umbau
der Wirtschaft. Klimaschutz sei enorm wichtig, sagte Michel. Mit dem
neuen Klimaziel will die EU dazu beitragen, das Pariser Klimaabkommen
umzusetzen und die gefährliche Überhitzung der Erde zu stoppen.

Sehr besorgt zeigte sich Michel wegen der stark steigenden
Corona-Zahlen überall in Europa. Mit dem Thema werde sich der Gipfel
am Freitag eingehend befassen. Ziel sei eine engere Koordinierung
unter anderem bei der Kontaktnachverfolgung und bei Quarantäneregeln,
um die Ausbreitung des Virus zu begrenzen.

Dänemarks Ministerpräsidentin Mette Frederiksen sagte der Agentur
Ritzau, auch der Gipfel hätte besser online statt vor Ort stattfinden
sollen. Tatsächlich musste von der Leyen das Ratsgebäude gleich nach
Auftakt wieder verlassen: Nachdem jemand aus ihrem Stab positiv
getestet wurde, begab sich die 62-Jährige in Quarantäne.