Neue Eiszeit - EU-Sanktionen wegen Nawalny vertiefen Krise mit Moskau Von Ansgar Haase und Ulf Mauder, dpa

15.10.2020 17:29

Steuern die Beziehungen zwischen der EU und Russland wegen des Falls
Nawalny auf eine lange neue Eiszeit zu? Die jetzt verhängten
Sanktionen gegen Vertraute von Kremlchef Wladimir Putin lassen nichts
Gutes erahnen.

Brüssel/Moskau (dpa) - Der Mordanschlag auf den vom Kreml nie beim
Namen genannten Oppositionellen Alexej Nawalny schlägt einen neuen
Keil in Russlands Verhältnis zur EU. Die Sanktionen der EU gegen
Russland - wegen des Anschlags auf Nawalny mit dem international
geächteten Nevenkampfstoff Nowitschok - verschärfen die Krise
zwischen Moskau und Brüssel massiv. Außenminister Sergej Lawrow hatte
zuletzt schon damit gedroht, in den Beziehungen mal eine Auszeit
einzulegen, den Dialog einzufrieren. Die russische Reaktion auf die
neuen Sanktionen fiel erwartungsgemäß dünnhäutig aus.

Wegen des Schicksals eines Menschen setze die EU nun die Beziehungen
zu Russland aufs Spiel, meinte Kremlsprecher Dmitri Peskow. Die
Sanktionen schadeten dem Verhältnis. Doch der 44-jährige Nawalny
zeigte sich im Schwarzwald, wo er sich streng bewacht von dem
Mordanschlag erholt, durchaus zufrieden mit dem internationalen
Wirbel. 17 Millionen Leser und eine Million Likes in neun Tagen,
schrieb er stolz im Kurznachrichtendienst Twitter am Donnerstag.

Es war Nawalnys Art, Peskow zu antworten, der ihn wieder nicht beim
Namen nannte und ihm zudem einmal mehr die Rolle als
Oppositionsführer und jedwede politische Bedeutung absprach. Dabei
löste gerade Nawalnys Fall Sanktionen gegen prominente Gefolgsleute
von Kremlchef Wladimir Putin aus. Wie so oft bei Strafen reagierte
Russland nicht nur verärgert, sondern drohte prompt Gegensanktionen
an. Die stolze Atom- und Energiegroßmacht macht immer wieder
deutlich, sich dem Druck von außen nie zu beugen.

Schon seit dem Ukraine-Konflikt 2014 mit der russischen Annexion der
Schwarzmeer-Halbinsel Krim ist von einer neuen Eiszeit wie im Kalten
Krieg die Rede. Die deswegen von der EU beschlossenen Sanktionen
führten zu Milliardenverlusten. Zwar ist nun vorerst keine Rede von
Sanktionen gegen die umstrittene russische Ostseepipeline Nord Stream
2. Trotzdem ist der Fall Nawalny für Deutschland und die EU ein neuer
Tiefpunkt im ohnehin schwer belasteten Verhältnis.

Unablässig hatten sich europäische Spitzenpolitiker wie Kanzlerin
Angela Merkel (CDU) in den vergangenen Jahren darum bemüht, Putin zu
einer Wiederannäherung an das westliche Wertesystem zu bewegen. Der
mit einem militärischen Nervengift verübte Anschlag auf Nawalny
führte ihnen nun wie kaum ein anderes Ereignis zuvor vor Augen, dass
die Anstrengungen wohl vergeblich waren und es auch bleiben werden.

Da von Moskau bislang keine glaubhafte Erklärung zu dem grausamen
Mordversuch geliefert worden sei, sei davon auszugehen, dass es eine
russische Beteiligung und Verantwortung gebe, schlussfolgerten
Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) und sein französischer Kollege
Jean-Yves Le Drian bereits in der vergangenen Woche. Konsequenz
müssten EU-Sanktionen sein, die nun schneller kamen als erwartet.

Zwar betont Russland beinahe täglich, nichts mit dem Fall zu tun zu
haben. Der Machtapparat hatte sogar die Version gestreut, westliche
Geheimdienste selbst hätten vielleicht Nawalny vergiftet, um Russland
international ins Abseits zu drängen. Doch mit den am Donnerstag in
Kraft getretenen Sanktionen trifft es jene, denen eine Verwicklung in
einen solchen Anschlag zugetraut wird.

Mit dem Chef des Inlandsgeheimdienstes FSB, Alexander Bortnikow, und
dem Vizechef der Präsidialverwaltung, Sergej Kirijenko, gehören enge
Vertraute Putins zu denjenigen Personen, die wegen einer vermuteter
Mitverantwortung für den skrupellosen Anschlag auf Nawalny ab sofort
von EU-Einreiseverboten und Vermögenssperren betroffen sind. Nawalny
hatte Putin persönlich verantwortlich gemacht, den Anschlag befehligt
oder zumindest bewilligt zu haben. Putin selbst kam wohl nicht auf
die EU-Liste, um keine ganze große Eskalation zu riskieren.

Zudem steht nun auch der Putin-Vertraute Jewgeni Prigoschin auf der
EU-Sanktionsliste. Dem Milliardär und früheren Koch des Präsidenten
werden offiziell Verstöße gegen das UN-Waffenembargo gegen Libyen
vorgeworfen. Zugleich wirft Nawalny Prigoschin korrupte
Machenschaften vor, womit er sich den einflussreichen Unternehmer zu
einem mächtigen Feind gemacht hat. Prigoschin wird für internationale
Desinformationskampagnen verantwortlich gemacht.

Mit den Strafmaßnahmen will die EU zeigen, dass sie Verbrechen wie
das gegen Nawalny nicht einfach hinnimmt - selbst dann nicht, wenn
sie in Russland selbst verübt werden. Zudem gibt es die Hoffnung,
dass die Sanktionen dazu beitragen, dass der wirtschaftliche Druck
auf Putin weiter steigt. Indirekt dürften die neuen Strafmaßnahmen
nämlich dazu führen, dass sich ausländische Unternehmen noch einmal
mehr überlegen, ob sie in einem Land wie Russland investieren wollen.


Weitere Sanktionen sollen demnächst folgen. So wird in der
Bundesregierung mittlerweile fest davon ausgegangen, dass der
russische Staat auch für einen mutmaßlichen Auftragsmord an einem
Georgier tschetschenischer Abstammung im Berliner Tiergarten
verantwortlich ist. Auch wegen der massiven Cyber-Attacke auf den
Bundestag 2015 steht Moskau am Pranger.

Droht nun ein Abbruch der Beziehungen? Derzeit sieht es nicht danach
aus. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell betonte bereits am Montag,
dass die EU weiter mit Russland werde reden müssen, um auf
internationaler Ebene Probleme und Konflikte lösen zu können. «Die
Welt kann nicht auf dieses unglückliche Ereignis der Vergiftung von
Herrn Nawalny reduziert werden», sagte Borrell. Und auch
Kremlsprecher Peskow stellte zuletzt klar, dass Russland einen
konstruktiven Dialog auf Augenhöhe mit der EU für notwendig und
nützlich halte. Aber, meinte er einschränkend: «Sie wissen ja, so
banal das ist, aber einen Tango alleine tanzen gelingt eben nicht.»