Johnson will sich zum Brexit-Streit äußern: Bricht er Gespräche ab?  

16.10.2020 05:00

Die EU fordert Entgegenkommen von Großbritannien, London zeigt sich
enttäuscht. Heute will sich der britische Premier zu den Beschlüssen
des Brüsseler EU-Gipfels äußern. Ist es das Ende der Verhandlungen?

Brüssel (dpa) - Stunde der Wahrheit im Brexit-Streit: Der britische
Premier Boris Johnson will am Freitag erklären, ob und wie
Großbritannien weiter mit der Europäischen Union über einen
Handelspakt verhandelt. Nach Beschlüssen des EU-Gipfels vom
Donnerstag hatte sich Großbritanniens Chef-Unterhändler David Frost
enttäuscht gezeigt. Die EU will die Verhandlungen hingegen in den
kommenden Wochen deutlich intensivieren. Kanzlerin Angela Merkel
signalisierte in der Nacht zum Freitag zum Kompromissbereitschaft.

Zum Stand der Gespräche über den Handelspakt sagte die
CDU-Politikerin nach dem ersten Gipfeltag, es gebe Licht und
Schatten. «An einigen Stellen haben sich die Dinge gut bewegt. An
anderen Stellen ist noch viel Arbeit zu leisten.» Insgesamt sei ein
Abkommen für beide Seiten sinnvoll. «Notfalls müssen wir auch ohne
das leben, aber ich glaube, besser wäre es, wir hätten ein solches
Abkommen», sagte Merkel. Ihr belgischer Kollege Alexander De Croo
sagte: «Es wäre wahnsinnig, keinen Deal zu haben. Aber es wäre noch
wahnsinniger, einen schlechten Deal zu haben.»

Die EU und Großbritannien arbeiten seit Monaten an einem Handelspakt,
der nach dem Brexit und der wirtschaftlichen Trennung zum Jahresende
Zölle und Handelshemmnisse verhindern soll. Doch ist man in
entscheidenden Punkten von einer Lösung weit entfernt - obwohl
Johnson der EU eine Frist zur Einigung bis 15. Oktober gesetzt hatte.

Der EU-Gipfel forderte London nun auf, «die nötigen Schritte zu tun,
um ein Abkommen möglich zu machen». Kanzlerin Merkel betonte später:

«Das schließt natürlich ein, dass auch wir Kompromisse machen müsse
n.
Jede Seite hat ihre roten Linien.» London hatte zu diesem Zeitpunkt
jedoch schon auf den Gipfel-Beschluss reagiert: Unterhändler Frost
zeigte sich enttäuscht und kündigte Johnsons Erklärung für Freitag

an.

Zum Abschluss des EU-Gipfels wollen die Staats- und Regierungschefs
am Freitag über die Beziehungen zum Nachbarkontinent Afrika beraten.
Zudem werden erneut die eskalierenden Spannungen zwischen der Türkei
und den EU-Staaten Griechenland und Zypern Thema sein. Griechenland
und Zypern werfen der Türkei vor, in Meeresgebieten nach Erdgas zu
suchen, die nach dem internationalen Seerecht nur von ihnen
ausgebeutet werden dürfen. Die Türkei argumentiert hingegen, dass sie
das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen nicht
unterschrieben hat und die erkundeten Zonen zum türkischen
Festlandsockel gehören.

Der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis hatte bereits
zum Auftakt des Gipfels ein entschlossenes Auftreten der EU gegenüber
Ankara gefordert. «Die Türkei besteht leider auf ihre provokative und
aggressive Politik», sagte er. Die EU müsse nun standhaft bleiben und
bei der Fortsetzung des Verhaltens Konsequenzen ziehen. Mitsotakis
spielte damit darauf an, dass die EU beim vergangenen EU-Gipfel
Sanktionsdrohungen gegen die Türkei erneuert hatte.

Angesichts dramatisch steigender Corona-Infektionszahlen in ganz
Europa vereinbarten die Staats- und Regierungschefs am Donnerstag
eine intensivere Zusammenarbeit bei der Pandemiebekämpfung. Es solle
eine bessere Koordination bei den Quarantänevorschriften, der
grenzüberschreitenden Kontaktverfolgung sowie bei Teststrategien, dem
Aufbau von Impfkapazitäten und Reisebeschränkungen geben, hieß es in

der Abschlusserklärung.

Zudem einigte der Gipfel sich grundsätzlich darauf, das Klimaziel für
2030 zu verschärfen. In dem Zusammenhang sei der Vorschlag der
EU-Kommission diskutiert worden, die Treibhausgase bis 2030 um
mindestens 55 Prozent unter den Wert von 1990 zu senken, hieß es. Ein
Beschluss solle bis Ende des Jahres fallen. Merkel hatte sich zu
Beginn des Gipfels hinter das 55-Prozent-Ziel gestellt. Bisher gilt
als Ziel minus 40 Prozent.