Johnson: Großbritannien macht sich bereit für einen No-Deal Von Verena Schmitt-Roschmann, Larissa Schwedes und Silvia Kusidlo, dpa

16.10.2020 23:39

Rund viereinhalb Jahre dauert die Scheidung Großbritanniens von der
EU nun schon - und immer wieder ging es hin und her. Nun scheint der
britische Premier aufs Ganze gehen zu wollen. Doch es bleibt eine
Hintertür.

Brüssel/London (dpa) - Im Brexit-Streit hat der britische
Premierminister Boris Johnson sein Land auf einen harten Bruch ohne
Vertrag mit der Europäischen Union am 1. Januar eingestimmt. Die EU
habe gut zehn Wochen vor dem Ende der Brexit-Übergangsphase
offenkundig kein Interesse an einem von Großbritannien gewünschten
Freihandelsabkommen wie mit Kanada, sagte Johnson am Freitag in
London. Dementsprechend erwarte man nun eine Beziehung wie mit
Australien - also ohne Vertrag, polterte der Regierungschef los.

Es war ein Auftritt mit großer Geste nach tagelangem Hin und Her mit
der EU in der Schlussphase sehr komplizierter und sehr langwieriger
Verhandlungen: Wenn Ihr nicht nachgebt, dann gehen wir eben, lautete
die Botschaft des britischen Premiers. Zuvor hatte Johnson bereits
ein Ultimatum für eine Einigung bis 15. Oktober gestellt, das aber
zunächst sang- und klanglos abgelaufen war.

Diese Frist hatte Brüssel ignoriert, und das tat die EU-Seite
kurioserweise auch mit Johnsons Erklärung am Freitag wieder. Wir
verhandeln weiter, sagten dort ungerührt nacheinander
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen, Ratschef Charles Michel
und auch Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Abschluss des EU-Gipfels.

Denn bei näherem Hinsehen war Johnsons kurzer Fernsehauftritt alles
andere als eindeutig. Er ließ sich eine Hintertür offen, doch weiter
mit der EU über einen Handelspakt zu sprechen. Das sei möglich, wenn
die EU umsteuere, ließ Johnson erkennen: «Kommt hierher, kommt zu uns
- wenn es fundamentale Änderungen an eurer Position gibt.» Ein
Regierungssprecher schob dann noch die Klarstellung nach: «Die
Handelsgespräche sind vorbei.» Brüssel habe sie ja beendet. Dort
rätselt man: «Wir sind im Interpretationsmodus», so ein EU-Diplomat.


Nun solle EU-Unterhändler Michel Barnier nächste Woche nach London
reisen und die Gespräche «intensivieren», schrieb von der Leyen flugs

auf Twitter. Ratschef Michel stellte aber klar, dass die EU ihre
gerade beim Gipfel abgestimmte Linie nicht über Bord werfen werde.

Doch London reagierte barsch. Der britische Unterhändler David Frost
habe Barnier klar gemacht, am Montag nicht nach London zu kommen,
hieß es am Abend aus der Downing Street. Denn für weitere
Verhandlungen gebe es keine Grundlage. Dennoch wolle man aber
miteinander sprechen, hieß es weiter. Britische Medien berichteten,
dass ein Telefongespräch vereinbart worden sei.

«Die Verhandlungen gehen weiter, völlig klar», sagte Guntram Wolff
vom Brüsseler Thinktank Bruegel nach Johnsons Auftritt der Deutschen
Presse-Agentur. «Jetzt sind wir in einer Verhandlungsphase, wo beide
Seiten sehr hoch pokern.»

In Großbritannien sah das Brexit-Expertin Georgina Wright von der
Denkfabrik Institute for Government ähnlich. «Das sind wirklich keine
Neuigkeiten», sagte sie zu Johnsons wortgewaltigem Auftritt. «Die
nächste Woche wird entscheidend.» Auch eine Gruppe nordirischer
Unternehmer sprach von «politischen Spielchen». Was dem Ernst der
Lage kaum gerecht wird: Sowohl in Großbritannien als auch in der EU
wird bei einem harten Bruch mit großen Schäden für die Wirtschaft
gerechnet. Denn dann kommt es zu Zöllen und anderen Handelshürden.

Der anvisierte Handelsvertrag soll dies eigentlich verhindern.
Großbritannien hatte die Staatengemeinschaft Ende Januar verlassen,
ist aber während einer Übergangszeit bis zum Jahresende noch Mitglied
im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion. Erst danach kommt der
wirtschaftliche Bruch. Die Verhandlungen hängen aber seit Monaten an
Grundsatzfragen fest.

Hauptstreitpunkte waren von Anfang an der Zugang von EU-Fischern zu
britischen Gewässern sowie die Forderung der Staatengemeinschaft nach
gleichen Wettbewerbsbedingungen für die Wirtschaft, also gleiche
Umwelt-, Sozial- und Subventionsstandards. Im Gegenzug soll
Großbritannien Waren ohne Zoll und Mengenbeschränkung in den
EU-Binnenmarkt liefern können. Dritter wichtiger Punkt für die EU
sind Regeln zur Schlichtung für den Fall, dass eine Seite gegen das
Abkommen verstößt.

In den drei Punkten verlangte der EU-Gipfel am Donnerstag
Zugeständnisse von Großbritannien - was die britische Regierung
«enttäuschend» nannte. Johnson richtete nicht zum ersten Mal die
bittere Klage an Brüssel: «Sie wollen weiter die Möglichkeit, unsere

Freiheit zur Gesetzgebung zu kontrollieren, unsere Fischerei, in
einer Art und weise, die völlig inakzeptabel für ein unabhängiges
Land ist.»

Kanzlerin Merkel deutete allerdings an, dass längst Auswege aus der
Sackgasse geprüft werden - dass also noch etwas möglich ist. Auch der
Brüsseler Experte Wolff sagte, im Streit über Wettbewerbsbedingungen
und die Schlichtungsregeln gebe es Fortschritte. Am Ende müsse sich
aber wohl die EU und vor allem Frankreich bei der harten Haltung beim
Thema Fischerei bewegen. «Hoffen wir, dass das Pokern aufgeht und ein
guter Deal herauskommt», sagte Wolff.

Die britischen Wähler hatten 2016 mit knapper Mehrheit für den
EU-Austritt gestimmt. Johnson gewann 2019 die Parlamentswahl unter
anderem mit der Ansage, den Brexit tatsächlich durchzuziehen.
Inzwischen gilt der Premier als schlechter Krisenmanager - nicht nur
beim Brexit, sondern auch bei der Bewältigung der Corona-Krise.

Großbritannien gehört zu den am stärksten von der Pandemie
betroffenen Ländern in Europa. Ein harter Brexit und ein außer
Kontrolle geratener Corona-Ausbruch - Kritiker bezweifeln, ob das für
das Vereinigte Königreich wirklich zu bewältigen ist. Der Londoner
Bürgermeister Sadiq Khan (Labour-Partei) forderte Johnson auf, die
Brexit-Übergangsphase wegen der Pandemie zu verlängern. «Das Chaos
eines No-Deal-Brexits» sei das Letzte, was man nun gebrauchen könne.