EU-Haushaltsstreit: Merkel sieht keine rasche Lösung

19.11.2020 18:31

Im Juli herrschte Euphorie: Die 27 EU-Staaten rangen sich bei einem
Marathongipfel zu einem historischen Finanzpaket durch. Doch der
große Kompromiss war zum Teil Illusion.

Berlin/Brüssel (dpa) - Nach dem Veto Ungarns und Polens gegen das
europäische Haushaltspaket haben die EU-Staats- und Regierungschefs
am Donnerstagabend bei einem Videogipfel einen Ausweg aus der Krise
gesucht. Eine rasche Lösung erwartete Bundeskanzlerin Angela Merkel
(CDU) aber nicht, wie ein Regierungssprecher in Berlin vorab
klarstellte. Auch die ungarische Regierung schloss dies aus.

Ungarn und Polen stoßen sich an einer neuen Klausel zur Kürzung von
Geldern bei bestimmten Rechtsstaatsverstößen. Mit ihrem Nein ist das
1,8 Billionen Euro schwere Haushaltspaket für die nächsten sieben
Jahre vorerst blockiert. Das schließt 750 Milliarden Euro an
Corona-Hilfen ein, auf die viele EU-Staaten dringend hoffen.
Eigentliches Thema des Videogipfels war die Corona-Krise. Er begann
jedoch mit einer Erklärung Merkels zum Haushaltsstreit, wie ein
Sprecher von Ratschef Charles Michel auf Twitter mitteilte.

Deutschland, das derzeit den Vorsitz der EU-Staaten führt, und andere
Länder haben Ungarn und Polen zum Einlenken aufgefordert - bisher
vergeblich. Der ungarische Kanzleramtsminister Gergely Gulyas sagte
am Donnerstag, die Chance, dass es beim Videogipfel zum Ende der
Blockade komme, betrage «auf einer zehnstufigen Skala gleich null».

Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) sagte, Deutschland suche in
seiner Rolle als EU-Vorsitzland eine Lösung. Das werde aber nicht
öffentlich getan. Er wollte sich nicht dazu äußern, ob die mögliche

Lösung in den laufenden Artikel-7-Verfahren zum Entzug der
Stimmrechte Polen und Ungarns liegen könnte. Maas betonte, viele
EU-Staaten seien nicht bereit, beim Thema Rechtsstaatlichkeit noch
große Kompromisse einzugehen. «Das ist eine sehr schwierige
Situation, in der wir uns befinden», sagte der SPD-Politiker.

Artikel-7-Verfahren zur Prüfung von Vorwürfen gegen Ungarn und Polen
wurden bereits vor längerem eingeleitet, weil beide Länder nach
Analysen der EU-Kommission zum Beispiel ihren Einfluss auf die Justiz
in unzulässiger Weise ausbauen. Die in Brüssel wegen ihrer
weitreichenden Folgen auch als «Atombombe» bezeichnete Prozedur kam
aber bislang nicht voran, weil etliche Mitgliedstaaten keine
Zerreißprobe für die EU auslösen wollten.

Die neue Rechtsstaatsklausel war im Prinzip bereits im Juli
vereinbart worden, als die Staats- und Regierungschefs bei einem
fünftägigen Gipfel das 1,8 Billionen Euro schwere Haushaltspaket
schnürten. Doch war die Formulierung damals sehr vage. Ungarn und
Polen bemängeln, die damaligen Absprachen seien nicht korrekt
umgesetzt worden. Die Details hatte die deutsche
EU-Ratspräsidentschaft mit dem Europaparlament ausgehandelt.

Das EU-Parlament will davon nicht mehr abrücken, wie Präsident David
Sassoli gemeinsam mit den Fraktionschefs erklärte. Der CSU-Politiker
Manfred Weber, Fraktionschef der Europäischen Volkspartei, sagte, er
könne nicht verstehen, warum sich Polen und Ungarn über die Klausel
beklagten. Am Ende habe jedes Land die Möglichkeit, vor dem
Europäischen Gerichtshof gegen die Kürzung von Geldern zu klagen.

Die Grünen-Politikerin Franziska Brantner nannte das Veto von Ungarn
und Polen einen «Schlag ins Gesicht für alle Europäer». Merkel dü
rfe
nicht einknicken. «In dieser Frage darf es keine faulen Kompromisse
geben, sie berührt die Existenz der EU», erklärte Brantner in Berlin.


Der SPD-Politiker Achim Post meinte, gebe es keine gemeinsame Lösung,
müsse man auch Wege ausloten, wie man das Veto umgehen und
Corona-Aufbaufonds trotzdem starten könne. Brantner und Post
erinnerten daran, dass Merkel mit ihrer CDU zur selben
Parteienfamilie gehört wie Ungarns Regierungschef Viktor Orban.

Die EU-Kommission hat Polen und Ungarn immer wieder wegen
Rechtsstaatsverstößen kritisiert, unter anderem wegen des Umbaus der
Justiz. Beide Staaten könnten also vom Rechtsstaatsmechanismus
betroffen sein.

Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki sagte am Mittwoch, das
Thema sei «in der EU zum Propaganda-Knüppel geworden». Er sprach von

einem Wendepunkt in der Geschichte der EU. «Entscheidungen, die auf
willkürlichen Anordnungen basieren, können leicht zu ihrem Zerfall
führen.» Polen fordere Gleichbehandlung aller EU-Mitglieder.

Der slowenische Ministerpräsident Janez Jansa hatte in den
vergangenen Tagen Sympathie für die Haltung Ungarns und Polens
geäußert. Ein Veto hatte Slowenien bei der Haushaltsabstimmung im
Kreis der Mitgliedsstaaten am Montag aber nicht eingelegt.