Bosniens unfertiger Frieden - Das Abkommen von Dayton wird 25 Von Gregor Mayer, dpa

20.11.2020 09:30

Ausgehandelt in einer US-Luftwaffenbasis beendete der Friedensvertrag
von Dayton einen langen, blutigen Krieg. Zugleich legte er das
Fundament für den neuen Staat der bosnischen Muslimen, Serben und
Kroaten. Trotzdem mag niemand von einer Erfolgsgeschichte sprechen.

Sarajevo (dpa) - Als sich die Präsidenten von Serbien, Kroatien und
Bosnien-Herzegowina im November 1995 in der US-Luftwaffenbasis Dayton
(US-Bundesstaat Ohio) einfanden, unterwarfen sie sich ungewöhnlichen
Regeln. Wie bei einer Papstwahl sollten Slobodan Milosevic, Franjo
Tudjman und Alija Izetbegovic, nahezu abgeschottet von der Außenwelt,
unter amerikanischer Vermittlung so lange miteinander verhandeln, bis
eine Friedenslösung für den seit mehr als drei Jahren tobenden
blutigen Krieg in Bosnien gefunden war.

Fast 100 000 Menschen starben bei Kämpfen und bei Massakern an
unbewaffneten Zivilisten. Hunderttausende wurden vertrieben, Städte
grausam von Artillerie und Scharfschützen belagert, ganze Landstriche
verwüstet, Dörfer mutwillig niedergebrannt. Die meisten Opfer waren
bosnische Muslime. Milosevic und Tudjman hatten sich darauf
verständigt, Bosnien untereinander aufzuteilen. Die Siedlungsgebiete
der ethnischen Serben und Kroaten sollten an das jeweilige
«Mutterland» angeschlossen werden. Serbien beanspruchte und eroberte
aber auch Gebiete, in denen wenige oder keine Serben lebten, um ein
gebietsmäßig kohärentes «Groß-Serbien» herzustellen. Die Nicht-
Serben
wurden ermordet oder vertrieben. 

Im Herbst 1995 hatte sich jedoch die strategische Lage gewendet.
Militärische Erfolge der Kroaten und Bosnier setzten den serbischen
Para-Staat in Bosnien unter Druck. Die Nato-Artillerie hatte den
serbischen Belagerungsring um Sarajevo nach mehr als drei Jahren
gesprengt. Dies trug dazu bei, dass die drei Präsidenten in Dayton
ihre vorläufige Unterschrift unter das Friedensabkommen setzten.
Formell unterzeichneten sie es dann am 14. Dezember in Paris.   

Der Kern des Abkommens: Bosnien-Herzegowina blieb als Ganzes
erhalten, allerdings als eher schwacher Gesamtstaat. Zwei
Landeshälften - sogenannte «Entitäten» - wurden geschaffen: die
Föderation BiH, hauptsächlich bewohnt von muslimischen Bosniern und
Kroaten, und die Serbenrepublik (Republika Srpska), hauptsächlich
bewohnt von Serben. Die internationale Gemeinschaft stellte eine
Nato-geführte Schutztruppe, um die militärische Befriedung
abzusichern, und einen sogenannten Hohen Repräsentanten. Dieser
konnte in die Politik eingreifen, wenn die lokalen Politiker gegen
Geist und Buchstaben des Dayton-Abkommens verstießen.

Trotzdem ist Bosnien nach 25 Jahren zu keinem funktionierenden
Bürgerstaat zusammengewachsen. Das Sagen haben weiterhin die vor oder
im Krieg entstandenen Nationalparteien, die keinen starken Staat
wollen, um im Trüben fischen zu können. «Die Väter von Dayton hatte
n
eben nur vor Augen, wie sie den Krieg stoppen können», sagt die
ehemalige Diplomatin Sonja Biserko, die seit 16 Jahren das
Helsinki-Komitee in Belgrad leitet. Der amerikanische
Chef-Unterhändler Richard Holbrooke und sein Team legten Werkzeuge
für einen demokratischen Übergang auf den Tisch, in der Hoffnung
darauf, «dass sich die Dinge von selbst entwickeln». 

Tatsächlich gab es in den ersten 10 bis 15 Jahren nach dem
Dayton-Abkommen Fortschritte. Die damals noch energisch agierenden
Hohen Repräsentanten bewirkten, dass in Bosnien eine gemeinsame
Armee, gemeinsame Polizeistrukturen und eine gemeinsame Justiz
entstanden. Doch mit der Zeit erlahmte das Engagement des Westens.
Erst seit sich Russland um 2013/14 verstärkt das so entstandene
Vakuum zunutze machte, um seinen eigenen Einfluss auszubauen, lässt
die EU wieder mehr Interesse an der Region erkennen. 

Der Schaden ist gerade in Bosnien immens. Das Dayton-Abkommen hat in
Politik und Gesellschaft ethnische neben demokratischen Prinzipien
verankert. Im Windschatten der Vernachlässigung durch den Westen sind
die ethnischen Prinzipien dominant geworden. Die Nationalparteien
aller drei Volksgruppen trieben diesen Prozess bewusst voran, weil
ihnen das die weitgehende Kontrolle über die jeweilige Volksgruppe
ermöglichte. «So kommen die Diebe mit ihrer Korruption durch»,
formuliert es Biserko. 

Mit dem gewählten US-Präsidenten Joe Biden verknüpft sie jedoch
gewisse Hoffnungen. Er kenne die Balkan-Region sehr gut, als Mitglied
des US-Senats hatte er sich für das im Krieg blutende Bosnien
eingesetzt, die serbischen Kriegsverbrechen angeprangert. «Er wird
die US-Außenpolitik neu definieren, der EU wird das helfen», meint
Biserko. Noch-Präsident Donald Trump habe auch auf dem Balkan gegen
die EU gearbeitet und ihr zu schaden getrachtet. «Das ethnische
Prinzip muss jetzt in den Hintergrund gedrängt werden», sagt die
Menschenrechtskämpferin. 

Bei den Lokalwahlen am 15. November zeigte sich, dass immer mehr
Bürger die Nase voll haben von den korrupten und ineffizienten
Nationalparteien. Die muslimisch-bosnische Regierungspartei SDA
verlor weite Teile der Hauptstadt Sarajevo an die linke und
bürgerliche Opposition. In der serbischen Metropole Banja Luka verlor
die SNSD-Partei des bosnisch-serbischen Machthabers Milorad Dodik den
Bürgermeisterposten - an den 27-jährigen Drasko Stanivukovic. Er
hatte sich als mutiger Aktivist bei Protesten gegen die Polizeigewalt
in der Serbenrepublik einen Namen gemacht.