Datenschutz vs. Kindeswohl - Kampf gegen Kindesmissbrauch gefährdet? Von Michel Winde, dpa

21.11.2020 05:00

Das Internet kann viel Leid anrichten - etwa wenn Fotos und Videos
missbrauchter Kinder verbreitet werden. Im Kampf dagegen bekommen
Ermittler bislang viele Hinweise von Facebook, Google und Co. Der
Nebeneffekt eines EU-Gesetzes könnte das bald unmöglich machen.

Brüssel (dpa) - Hollywood-Schauspieler Ashton Kutcher sieht den
Schutz von Kindern in der EU gefährdet - und hat einen dringenden
Appell. Er möchte, dass jene Filter, mit denen im Internet bislang
Fotos und Videos missbrauchter Kinder aufgespürt werden, weiter
genutzt werden dürfen - trotz Datenschutzbedenken. «Diese Kinder, die
missbraucht werden, die sexuell missbraucht werden, und deren Inhalte
sich im Internet ausbreiten, sie verdienen auch Privatsphäre», sagte
Kutcher jüngst in einem Video auf Twitter. Er hatte 2012 die Stiftung
Thorn zum Schutz von Kindern mitgegründet.

Bislang scannen einige US-Unternehmen wie Facebook, Microsoft oder
Google die Nachrichten, die über ihre Dienste verschickt werden,
freiwillig auf Darstellungen missbrauchter Kinder. Dabei wird nach
einer Art digitalem Fingerabdruck gesucht, mit dem bereits bekannte
Fotos und Videos versehen werden. Doch der Einsatz der Filter könnte
in der EU bald verboten sein.

Denn bis zum 21. Dezember müssen die EU-Staaten den neuen Kodex für
die elektronische Kommunikation umsetzen. Damit wird unter anderem
festgelegt, welche Dienste unter das digitale Briefgeheimnis fallen.
Künftig sind das auch der Facebook-Messenger oder Googles
Email-Programm. Facebook etwa dürfte die Kommunikation seiner
Messenger-Nutzer dann nicht wie bisher mit dem Programm Photo-DNA
scannen.

EU-Innenkommissarin Ylva Johansson warnt deshalb, dass es dann keine
Hürden mehr für das Hochladen und Teilen von Bildern durch Pädophile

geben werde, wie sie der Deutschen Presse-Agentur sagte. Deshalb
schlug sie im September eine Übergangslösung vor, die das Filtern
weiter erlauben soll.

Denn Facebook und Co. sind für Ermittler eine große Hilfe. Nach
Angaben des Bundeskriminalamtes kommen die «meisten Hinweise zu
Dateien mit kinderpornografischen Inhalten» vom US-Zentrum für
vermisste und ausgebeutete Kinder. Dies arbeite «mit amerikanischen
Internetanbietern und Serviceprovidern wie Facebook, Microsoft, Yahoo
oder Google zusammen, die ihre Datenbestände und die über ihre
Dienste verbreiteten Daten mittels modernster Filtertechnologien
permanent nach Missbrauchsabbildungen scannen». 2019 seien so mehr
als 62 000 Hinweise beim BKA eingegangen, aus denen sich 21 600 Fälle
ergeben hätten.

Facebook benutzt das Programm Photo-DNA eigenen Angaben zufolge in
all seinen Apps «um bekanntes Kindesmissbrauchsmaterial zu finden und
es schnell zu löschen», wie ein Sprecher auf Anfrage sagt.

Müssen Ermittler also bald wegen des digitalen Briefgeheimnisses auf
Hinweise der US-Konzerne verzichten? Nicht, wenn es nach der
EU-Kommission geht. Die Brüsseler Behörde will, dass die Unternehmen
ihre Filter weitere fünf Jahre nutzen können. Zusätzlich soll das
sogenannte «Grooming» aufgespürt werden - also das Heranmachen von
Erwachsenen an Kinder über das Internet. «Meiner Ansicht nach sind
wir als Erwachsene dazu verpflichtet, Kinder vor sexueller Ausbeutung
online zu beschützen», sagt Johansson. Die EU-Staaten einigten sich
unter anderem darauf, vorläufig die Nutzung der Filter zu erlauben.
Doch auch das Europaparlament muss zustimmen - und hat Vorbehalte.

Grundsätzlich ist die SPD-Abgeordnete Birgit Sippel, die an dem Thema
federführend im Innenausschuss arbeitet, für eine Übergangslösung.

Der sexuelle Missbrauch von Kindern sei ein schweres Verbrechen, das
Einschränkungen anderer Grundrechte rechtfertige, sagt sie. Diese
müssten jedoch rechtssicher und verhältnismäßig sein. Deshalb forde
rt
Sippel Schutzvorkehrungen wie die Möglichkeit zur Beschwerde, falls
das eigene Konto zu Unrecht gesperrt wurde. Zudem sollte die
Übergangslösung auf ein Jahr befristet sein. Und die Unternehmen
müssten regelmäßig über ihre Arbeit Bericht erstatten.

Außerdem solle das «Grooming» aus dem Gesetz gestrichen werden. Denn

dafür müssten nicht nur digitale Fingerabdrücke abgeglichen, sondern

die gesamte Kommunikation der Nutzer mitgelesen werden.

Ebenso meldet der Europäische Datenschutzbeauftragte Bedenken gegen
den Vorschlag der EU-Kommission an. Und auch Alexander Hanff, selbst
Missbrauchsopfer, wendet sich dagegen: Der Vorschlag ermögliche die
Überwachung der gesamten privaten Kommunikation, schrieb er kürzlich
auf LinkedIn. Zudem gebe es keine Beweise, dass die Maßnahmen
tatsächlich wirksam seien und die Aktivitäten nicht einfach in den 
Untergrund dränge, wo sie noch schwerer aufzudecken seien.
Stattdessen müsse viel mehr präventiv gearbeitet werden.

«Ein schlecht geschriebenes Gesetz würde ziemlich wahrscheinlich vor
dem Europäischen Gerichtshof landen und somit keine Rechtssicherheit
schaffen. Und das würde niemandem helfen - nicht den Kindern, nicht
den Eltern und auch nicht den Behörden und Providern», sagt Sippel.

EU-Kommissarin Johansson hält dagegen: «Ich werde nie akzeptieren,
dass die Privatsphäre der Nutzer wichtiger ist als die Privatsphäre
der Kinderopfer.» Sie verteidigt auch ein mögliches Vorgehen gegen
das «Grooming». Schließlich suchten die benutzten Werkzeuge nur nach

bestimmten Indikatoren möglichen Kindesmissbrauchs.

Julia von Weiler von der Kinderschutzorganisation Innocence in Danger
versteht zwar Bedenken von Datenschützern, wie sie sagt. Aber aus
ihrer Sicht sei völlig unverständlich, dass bestehende und bewährte
Mittel jetzt plötzlich illegal werden sollen, weil die Gesetzgeber
nicht aufgepasst haben. «Wir stellen uns auf die vielleicht naive,
aber effiziente Position, den Status quo beizubehalten, bis man sich
auf einer dauerhafte Lösung geeinigt hat.» Die Würde des ohnehin
schon betroffenen Kindes wiege für sie schwer genug um zu sagen:
«Diese Filter sind akzeptabel.»

Weil der Vorschlag der EU-Kommission erst im September kam, wird die
Zeit für die Übergangslösung allerdings knapp. Der Innenausschuss des

Parlaments will sich bis Anfang Dezember auf eine Position festlegen,
Mitte des Monats könnte dann das Plenum darüber abstimmen. Dann
müssen Parlament und EU-Staaten sich noch auf eine Linie einigen.

In der EU-Kommission arbeitet man bereits an einer dauerhaften
Lösung, die im Juni 2021 vorgestellt werden soll. Künftig, so
Johansson, sollten die Online-Dienste sogar dazu verpflichtet werden,
Inhalte nach bereits bekannten Darstellungen von Kindesmissbrauch zu
scannen und sie zu melden.